Archiv der Zukunft
Archive überliefern, was später als Geschichte beforscht wird.
Es sei ein bisschen so, als habe er ein jahrzehntelang bewohntes Haus geerbt und stehe nun vor der Herausforderung, sich bei jedem Erbstück zu entscheiden: Bleibt dieses besser erhalten – oder kann es entsorgt werden? Besitzt jenes historischen Wert oder entpuppt es sich als Ballast?
„In so einer Situation braucht es zuallererst ein System – und helfende Hände.“ Beides hat er mittlerweile zum Glück, erzählt Dr. Peter Wegenschimmel, Leiter des UniArchivs. Ursprünglich stammt der 33-Jährige aus Österreich. Als promovierter Historiker und Soziologe entschied er sich nach mehreren Praktika für ein Archivreferendariat. Die Leitung des neuen Archivs trat er im Mai 2023 an, um es von Grund auf aufzubauen. Seitdem ist viel passiert.
E-Akten treten an die Stelle dicker Leitz-Ordner
Jeden Morgen nimmt der Archivar den Weg über den Haupteingang der Campusbibliothek am Holländischen Platz und schließt die Tür zum eigentlich leerstehenden, der Sanierung harrenden Bauteil A auf. Eigentlich leerstehend – denn genau hier hat seit einigen Monaten das UniArchiv seinen Platz. Magazine und Mitarbeitende werden nach der Sanierung noch innerhalb des Bauteils A umziehen müssen. Bereits saniert sind das Leitungs- und das Mitarbeiterinnenbüro. Darüber hinaus gibt es hier einen Arbeitsplatz für Besucherinnen und Besucher zum Recherchieren und Scannen und natürlich das Herzstück jedes Archivs: das Magazin.
Im Moment noch recht überschaubar, werden die Aktenordner in den nächsten zehn Jahren Rücken an Rücken voraussichtlich auf zwei Kilometer Länge anwachsen. Aber nicht nur Akten, auch Fotos, Dias und zunehmend auch digitale Überbleibsel der Universitätsgeschichte werden hier gesammelt. Ohnehin wird in den nächsten Jahrzehnten die Sicherung digitaler Informationen im Archiv eine zentrale Rolle spielen, denn die Verwaltung wandelt sich und so treten E-Akten an die Stelle der dicken Leitz-Ordner von einst.
Wegenschimmel arbeitete zunächst als reine „Ein-Mann-Gesellschaft“, wie er sagt. Seit einigen Monaten sind seine festen Mitarbeiterinnen Carina Nolte und Annett Schreiber mit an Bord. Nolte wagte nach ihrem Geschichtsstudium an der Uni Kassel den Quereinstieg ins Archivwesen. Eine gute Entscheidung, resümiert sie ihre ersten Monate im Beruf.
Annett Schreiber ist Diplomarchivarin und hat vorher in mehreren Kommunalarchiven gearbeitet. Sie ist die Expertin für Digitale Archivierung und bereitet im Moment die Veröffentlichung sogenannter Findmittel vor. Das sind Übersichten, mit deren Hilfe die Archivalien von Nutzerinnen und Nutzern online bestellt werden können.
Der Blick zurück lohnt sich – auch für die Zukunft
Vom Historiker zum Archivar, das ist keine Ausnahme – viele Archivarinnen und Archivare haben einen ähnlichen Hintergrund wie Nolte und Wegenschimmel. Es gibt aber etwas, das Wegenschimmel zur Bewerbung genau an der Uni Kassel motiviert hat: „Archive überliefern, was später als Geschichte beforscht wird. Diese Nähe zum Zeitgeschehen ist an einer so jungen Universität besonders gut spürbar; sogar ihre Gründungsmitglieder leben größtenteils noch und die Gespräche mit ihnen zeigen deutlich, dass selbst die Gründungsideen und -ideale noch nicht ausverhandelt sind.“
Auch heute hinterlässt die Uni Kassel kontinuierlich Spuren in Form von Schriftstücken, Fotos, Zeitungsartikeln, Blogeinträgen und anderen Artefakten, und der Lehr- und Forschungsbetrieb prägt Gegenwart und Zukunft.
Ebenfalls spannend findet der Archivar, dass sich gerade an Universitäten ganz verschiedene und manchmal widerstreitende Denkströmungen entwickeln können. „Im Rückblick werden Widersprüche und Mehrdeutigkeiten einer Organisation meist geglättet, während sie im Archiv konserviert werden.
Und manchmal werden auch totgeglaubte Ansätze wiederbelebt, wenn ihre Zeit kommt. Im Bereich der Nachhaltigkeit war die Universität aber schon immer Vorreiterin.“ Der Blick zurück lohnt sich also – auch für die Zukunft.
Eine zentrale Aufgabe: Transparenz
Aber wozu überhaupt ein eigenes Archiv an der Uni Kassel, wenn doch bisher alle Unterlagen im Hessischen Landesarchiv in Marburg gelagert wurden? Die einfache Antwort: Es ist gesetzlich so vorgeschrieben. Auf Basis des kürzlich novellierten Hessischen Archivgesetzes sind Universitäten nun verpflichtet, eigene Archive aufzubauen und zu pflegen.
Wegenschimmel betont, dass es aber noch weitere plausible Gründe für die Einrichtung eines eigenen Archivs gibt: ein nachhaltiges Wissensmanagement, eine schlanke Bürokratie und effektive Recycling-Kreisläufe zum Beispiel. Außerdem ist es eine zentrale Aufgabe von Archiven, zur Transparenz beizutragen – gerade auch in Zeiten wachsender Unsicherheit und vermehrter Zweifel an wissenschaftlichen und demokratischen Institutionen.
Zudem soll mit der Einrichtung des UniArchivs den Bürgerinnen und Bürgern ein einfacher und unkomplizierter Zugang zu öffentlichem Archivgut ermöglicht werden. Und wo ließe sich ein niedrigschwelliger Informationszugang besser sicherstellen als in den Institutionen, deren Geschichte archiviert werden soll?
Immer im Austausch
Gegen hartnäckige Archivklischees von Abgeschiedenheit und Rückzug verwahrt sich Wegenschimmel entschieden: „Wenn ich sehe, wie manchmal im Tatort die Archivarbeit als eremitische Kellertätigkeit zur Strafversetzung dargestellt wird, muss ich schmunzeln. Das ist weit weg von unserem Arbeitsalltag, zu dem enorm viel Kommunikation gehört.“
Das Team ist gut vernetzt – in und außerhalb der Universität, zum Beispiel in verschiedenen Arbeitskreisen mit anderen hessischen Archiven. Regelmäßig führt Wegenschimmel außerdem Gespräche mit Vertretern aller Fachgebiete der Uni, um das Archiv ins Gedächtnis zu rufen und gegebenenfalls in Schubladen oder Schränken verborgene Schätze zu bergen.
Wenn ich sehe, wie manchmal im Tatort die Archivarbeit als eremitische Kellertätigkeit zur Strafversetzung dargestellt wird, muss ich schmunzeln.
Das ist weit weg von unserem Arbeitsalltag.
Dass diese interne Vernetzung Früchte trägt, zeigt die Übernahme des Vorlasses von Gernot Minke. Minke war von 1974 bis 2011 Professor an der Universität und begründete das Forschungslabor für Experimentelles Bauen. Durch Überzeugungsarbeit des Fachbereichs 06 konnte Minke bewegt werden, dem Archiv seinen gesamten Vorlass zu überlassen. „Später kamen wiederum Studierende aus dem Fachbereich in die Räumlichkeiten des Archivs, um im Rahmen eines Seminars zu recherchieren.“
Ein Archiv also, das nicht nur Bewahrer von Vergangenem und Gegenwärtigem ist, sondern als lebendiger Teil der Universität Transparenz, Austausch und Dialog fördert – das ist das langfristige Ziel. Ein weiter Weg – aber der Anfang ist gemacht.
Dieser Beitrag erschien im Universitäts-Magazin publik. Text: Maya Burkhardt