„Es gibt eine Schattenseite“
Herr Büschel, oft heißt es, die Revolution von 1848/49 sei zwar gescheitert, ihr Verfassungsentwurf habe aber langfristig segensreich gewirkt. Teilen Sie diese Auffassung?
Hubertus Büschel: Es ist schon richtig, dass die Nationalversammlung und die Verfassung, die sie entworfen hat, eine Ausstrahlung hatten. Nicht nur in Deutschland übrigens: Sie beeinflusste auch die dänische Verfassung und die liberale Bewegung in Italien. Und ja, in Deutschland wirkten die Ideen der Paulskirche fort und fanden über die Weimarer Verfassung ihren Weg in unser heutiges Grundgesetz. Es gibt aber eine Schattenseite, die selten thematisiert wird.
Und die wäre?
Büschel: Es dominiert die Deutung, das liberale Bürgertum, das die Verfassung ja im Wesentlichen geschrieben hat, habe einen Ausgleich mit den so genannten ‚Unterschichten‘ einerseits und den Monarchen andererseits gesucht. Ich sehe das etwas anders. Die relativ neue Arbeiterschicht wurde nicht berücksichtigt, soziale Grundrechte wurden nicht festgeschrieben, vom Frauenwahlrecht ganz zu schweigen. Und mit dem grassierenden Antisemitismus fand keine Auseinandersetzung statt.
Moment, die Verfassung garantierte doch Religionsfreiheit. Und der Präsident der Nationalversammlung, Eduard Simson, war ein getaufter Jude.
Büschel: Erklärungen und Verlautbarungen sind das eine, die soziale Praxis das andere. Zu den Nachwirkungen der Revolution gehört ein enormer Schub an Vereinsgründungen mit stark deutschnationalem Einschlag. Diese Vereine wurden häufig zu Brutstätten des Antisemitismus.
Wie sahen die Revolutionsjahre in Kassel beziehungsweise in Kurhessen aus?
Büschel: Mein Vorgänger am Fachgebiet, Winfried Speitkamp, hat dazu Interessantes veröffentlicht. Das Kasseler Fürstenhaus hat länger als andere Staaten versucht, die Revolutionäre hinzuhalten, hat dann aber eingelenkt. Später gehörte Kurhessen zu jenen Staaten, die die Verfassung zunächst angenommen haben.
An Kassel ist die Sache also nicht gescheitert … In der Stadt erinnert trotzdem relativ wenig an den beachtlichen Kreis der Liberalen dieser Zeit: Es gibt eine kleine Jordan-Straße, eine noch kleinere Bernhardi-Straße, eine Büste von Schomburg. Fehlen da ein paar Denkmale?
Büschel: Es war schon eine große Leistung, damals Widerstand gegen die Monarchen zu leisten. Aber ich bin kein Freund von Denkmalen. Es wäre sinnvoller, wenn sich zum Beispiel die Museen der Stadt mit dem politischen Engagement der Grimms auseinandersetzten oder wenn es Schülerwettbewerbe zur Revolutionszeit in Kassel gäbe. Eine aktive und partizipative – durchaus auch kritische – Erinnerungskultur ist zeitgemäßer, weil nachhaltiger und Bewusstsein bildender im Vergleich zu Straßennamen und Denkmalen.
Zurück zur Urkunde: Welche Bedeutung hat für die Geschichtswissenschaft ein dingliches Original in Zeiten der Digitalisierung?
Büschel: Digitalisierung ist wichtig, weil sie Dokumente zugänglich macht. Aber zum Forschungserlebnis und auch zur Erkenntnis gehört, dass man eine sinnliche Erfahrung macht, dass man zum Beispiel das Material auch anfassen kann. Um bei der Verfassungsurkunde in der Murhardschen Bibliothek zu bleiben: Sie signalisiert schon durch ihre Aufmachung, den Einband, das Gewicht, dass sie Dauerhaftigkeit und Rechtsverbindlichkeit beansprucht. Das ist für Analysen wichtig.
Dieser Beitrag erschien im Universitäts-Magazin publik 2024/1. Interview: Sebastian Mense