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31.05.2024 | Literaturkritik

»Unser Deutschlandmärchen« von Dinçer Güçyeter – Eine Geschichte zwischen Märchen und Realität

von Lidia Medanik

„So verstehst du, dass du alleine geboren bist, allein sterben wirst. Deshalb suchst du weiter nach deiner eigenen Sprache, denn nur mit Hilfe der Sprache wirst du dich retten können.“

 

Diese Zeilen schreibt Dinçer Güçyeter in seinem 2022 erschienenen Debütroman Unser Deutschlandmärchen. Die Suche nach der eigenen Sprache, der eigenen Identität im Kontext der Migration und Marginalisierung ist der Kern von Unser Deutschlandmärchen, genauso wie der Versuch, zwischenmenschliche Verbindungen herzustellen, die über kulturelle Grenzen hinausgehen und generationsübergreifend sind. Ein ehrgeiziges Ziel, und doch gelingt Güçyeter mit seinem Roman genau das.

 

Unser Deutschlandmärchen erzählt viele Geschichten, die aber doch eines gemeinsam haben: Sie berichten von einem Leben am Rande der Gesellschaft. Wir erfahren von Ayşe, die als Griechin im anatolischen Dorf ein Dasein als ewig Fremde fristen muss, und ihrer Tochter Hanife, die als Witwe in die Stadt aufbricht, um der Gewalt ihres Schwiegervaters zu entkommen. Schließlich erzählt der Roman die Geschichte der Tochter Fatma, die einem fremden Mann nach Deutschland folgen muss, um dort als Gastarbeiterin der Armut in ihrem Heimatland zu entkommen. Ihr Sohn Dinçer, die Erzählfigur im Roman, die ihren Namen mit dem Autor teilt, will alle ihre Geschichten verstehen, und damit auch seine eigene. Hin- und hergerissen zwischen zwei Welten, den familiären Ansprüchen und den eigenen Träumen, wächst Dinçer auf und versucht in Unser Deutschlandmärchen eine Brücke zu bauen, um seine Welten zu vereinen.

 

Im Zentrum dieser Geschichte steht die Mutter-Sohn-Beziehung von Dinçer und Fatma. Es ist keine einfache. Fatma teilt das Schicksal vieler Frauen, deren Arbeit sowohl im als auch außerhalb des Hauses unsichtbar bleibt, die keine Wertschätzung erfahren, trotzdem immer funktionieren müssen. Dinçer scheint vor allem diesen Frauen eine Stimme geben zu wollen. Dabei entspricht Fatma keinem sentimentalisierten Idealbild einer aufopferungsvollen Mutter. Zwischen Arbeit und Haushalt hat sie kaum Zeit auf die Bedürfnisse ihres Sohnes einzugehen. Ein von Entbehrungen geprägtes Leben hat sie abgehärtet. Dinçers sensibler Charakter prallt bei Fatma auf Unverständnis, er trauert um die kaputten Träume seiner Mutter, wird gleichzeitig von der Last ihrer Erwartungen an ihn erdrückt. Eine Erfahrung, die wohl die meisten Gastarbeiter:innenkinder nachvollziehen können.

 

Stellenweise wirkt der Roman wie eine Anklageschrift gegen Fatma, sie wird aber weder verurteilt noch freigesprochen. Klar ist, dass für Dinçer viele Wunden noch offen sind und einige nie heilen werden. Und doch kommen weder Dinçer, noch man selber als Leser:in drum herum, Fatmas scheinbar endlose innere Stärke zu bewundern, ihre Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft. Unser Deutschlandmärchen ist also zugleich auch ein Liebesbrief an die eigene Mutter, und ein Versuch, ihr näher zu kommen.

 

„Wie oft hab ich deinen Tod halluziniert…“ sagt Dinçer zu Fatma, ein Statement das schockiert und zugleich in seiner Ehrlichkeit befreiend wirkt. Dies ist bezeichnend für Unser Deutschlandmärchen: Der Roman spricht das Unaussprechliche aus, versucht das Schweigen zu brechen. Er ist schonungslos und dabei gleichzeitig empathisch. Dinçers Sprache ist poetisch und kraftvoll, die Bilder, die er zeichnet sind ungewöhnlich und dabei extrem einprägsam. Das geschieht in unterschiedlichen Textformen, nüchterne Prosa und ausschweifende Poesie in Form von Liedern und Gedichten fügen sich zu einem Gesamtwerk zusammen, welches sich, ähnlich wie Dinçer selbst, in keine Schublade stecken lässt, voll ist von Gegensätzen und Widersprüchen. Diese Widersprüche schaden der Geschichte nicht, sondern machen sie aus: In Unser Deutschlandmärchen trifft das Märchen auf die Realität und beides geht nahtlos ineinander über. Am Ende bleibt die Frage: Wie gehen wir mit unserer Vergangenheit um, wie blicken wir in unsere Zukunft? Fatma findet dazu folgende Worte: „Jede Last, jeder Schmerz ist vergänglich, traut euch, habt keine Angst vor dem Leben.“