Lena Jacobi
Vom Bio-Hof in die Agrarpolitik
Aufgewachsen auf einem ostwestfälischen Biobetrieb mit Milchkühen, Saatgutvermehrung, Hofkäserei und Direktvermarktung begleitet mich die ökologische Landwirtschaft schon mein Leben lang. Nach dem Abi war allerdings erstmal Hofflucht angesagt. Nach einem kulturellen Freiwilligendienst, diversen Praktika in Bundestag, NGOs und auf Höfen sowie zwei Semestern Politikwissenschaften, entschied ich mich schließlich doch für die Landwirtschaft. Ich begann mit einem Studium in Göttingen (Agrarwissenschaften). Die Neugier auf kontroverse Diskussionen und ein belebtes Kneipenleben lockten. Doch so richtig angekommen war ich dort auch nach einem halben Jahr noch nicht.
Witzenhausen – hier war alles anders
Auf Empfehlung von Onno Poppinga und über Kontakte zur jungen Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) gelangte ich schließlich nach Witzenhausen. Begrüßt wurden wir am ersten Tag in der Uni von Studis des älteren Semesters mit einer vermeintlichen „Studieneinführung“, wo uns abstruse Initiativen und Unifächer vorgestellt wurden, die uns schocken sollten. Die Botschaft am Ende der Inszenierung wurde gemeinsam vom ganzen Hörsaal um uns herum gesungen: „Lasst euch nicht veräppeln, lasst euch nicht veräppeln!“. Ich merkte, hier war alles anders. Dieser erste Uni-Tag rührt mich noch heute.
Meine ersten Semester waren eine Mischung aus Studiklub, Hörsaal und „Sachen selbst machen“, begleitet von der ständigen Unsicherheit, ob Studieren wirklich das Richtige für mich ist. Auf dem Betrieb meiner Eltern stand außerdem bald die Hofnachfolge an. Die Frage, ob ich das wirklich will (zurück ins Heimatdorf, Kuhstall, weg von Freund*innen…), erübrigte sich schließlich, als mein jüngerer Bruder sich für die landwirtschaftliche Ausbildung entschied und sofort Feuer und Flamme war. Er ist seit Juli 2020 Betriebsleiter und darüber bin ich sehr froh.
Nachdem ich die ersten Hürden des Grundstudiums überwunden hatte, entdeckte ich den gesellschaftswissenschaftlichen Bereich für mich. Jetzt hatte ich den Eindruck, endlich richtig im Studium angekommen zu sein. Texte lesen, die mich tatsächlich interessierten, über Themen diskutieren, die mich wirklich bewegten.
Blick über den Tellerrand
Zu dieser Zeit stand auch die Documenta in Kassel an und ich besuchte mit Freund*innen ein Seminar in Kassel zum Thema „Existenzgründung“. Wir planten im Rahmen des Seminars ein fiktives Projekt: Ein Kiosk während der Documenta, der die Themen Landwirtschaft und Kunst zusammenbringen sollte. Ein halbes Jahr später stand unser Holzkiosk mit Hochbeetgarten drumherum mitten in Kassel auf dem Unigelände. 100 Tage lang boten wir Käsebrote und Diskurs zum Thema Landwirtschaft. Prof. Dr. Herzig begleitete das Projekt mit einer von Studis organisierten Veranstaltungsreihe. Die Interdisziplinarität in Witzenhausen, das über den Tellerrand schauen, hat mich immer sehr begeistert.
Während der Documenta bewarb ich mich an der Kunsthochschule in Kassel für ein Zweitstudium. Hier verbrachte ich dann auch den darauffolgenden Winter im Bereich visuelle Kommunikation. Nachdem ich meine Bachelorarbeit beendet hatte, zog es mich wieder nach Witzenhausen, um den Master in Ökologische Landwirtschaft anzuschließen. Einen Blick in die anderen Fachbereiche der Uni in Kassel kann ich wärmstens empfehlen.
Studieren und arbeiten in Witzenhausen
Durch mein agrarpolitisch bewegtes Elternhaus hatte ich schon früh Kontakte zur AbL. Das Bedürfnis agrarpolitisch mitzumischen, festigte sich in Witzenhausen. Hier nahm ich an Treffen der jungen AbL teil und plante Tagungen und Aktionen mit. Während des Masterstudiums absolvierte ich viele Seminare im Bereich Agrarpolitik und nahm an zahlreichen Exkursionen nach Brüssel, Berlin und Bonn teil. Aber auch die Lehrveranstaltungen im Nutztierbereich empfand ich als bereichernd für das Verständnis von Zielkonflikten, die zwischen Tierwohl und Umweltschutz bestehen. Den Blick für’s große Ganze vermittelte auch Prof. Dr. Jürgen Heß in seinen lebendigen Seminaren mit viel Engagement und Leidenschaft.
Als sich herauskristallisierte, dass ich meine Zukunft vorerst nicht in der praktischen Landwirtschaft sah, hielt ich Ausschau nach einem Plan B. Den fand ich kurz nach den Landtagswahlen in Hessen 2018. Hans-Jürgen Müller, langjähriger Biobauer und Verfechter des Ökolandbaus, zog überraschend in den Hessischen Landtag ein und suchte nach Mitarbeiter*innen für sein Regionalbüro in Witzenhausen. Hier bin ich nun seit Anfang 2019 neben dem Studium tätig und unter anderem zuständig für Recherche zu Agrar-Themen, Teilnahme an Fachveranstaltungen, Öffentlichkeitsarbeit und die Organisation eines Arbeitskreises Landwirtschaft. Für mich war und ist der Job ein echter Glücksgriff. Für die spannenden Einblicke in den politischen Prozess auf Länder-, Bundes- und EU-Ebene sowie die Möglichkeit in Witzenhausen zu arbeiten, bin ich sehr dankbar. Die Entscheidung für Witzenhausen habe ich nie bereut. Neben vielen Freund*innen, der großen Liebe und einem schönen Ort zum Leben, habe ich hier eine berufliche Richtung gefunden, die mich sehr erfüllt.