Nachruf Prof. Dr. med. Hartmut Radebold
Hartmut Radebold wurde von 1963 – 1967 Facharzt für Neurologie und Psychiatrie an der Charité und absolvierte eine psychoanalytische Ausbildung am Karl-Abraham-Institut in Berlin. Danach leitete er an der Universitätsklinik Ulm die Ambulanz der Abteilung für Psychotherapie und wurde dort geschäftsführender Oberarzt des Psychosozialen Zentrums der Universität.
Bereits in Berlin untersuchte Radebold Probleme psychisch kranker Älterer, insbesondere chronisch körperlich Erkrankter. Hier konnte er bereits, entgegen der damals vorherrschenden Lehrmeinung zeigen, dass eine psychotherapeutisch orientierte psychiatrische Arbeit mit älteren, körperlich erkrankten Personen hilfreich für die Verbesserung von Lebensqualität und Gesundheit sein kann und welche Widerstände unter den Professionellen gegen diese Perspektiven und daraus resultierenden Behandlungsmöglichkeiten sprachen. 1973 wurde er in die sog. Enquete-Kommission der Bundesregierung berufen, die mit ihrem Bericht über den Zustand der bundesdeutschen Psychiatrie zur Reform der Versorgung im psychiatrischen und psychotherapeutisch/psychosomatischen Bereich auf der Grundlage des Modellprogramms Psychiatrie führte.
1976 wurde er auf die C-4 Professur für Klinische Psychologie an der Universität Kassel im Fachbereich Sozialwesen berufen. Hier wirkte er u.a. am Aufbau des Diplomstudienganges Sozialgerontologie entscheidend mit. Seine Forschungsschwerpunkte waren die Psychodynamik, Beratung, Psychotherapie, Psychoanalyse und Psychosomatik Älterer. Die hohe Qualität und Intensität seines wissenschaftlichen Wirkens auf dieser Professur zeigt sich u.a. in einer außerordentlich hohen Menge kompetitiv eingeworbener Drittmittel in dieser Zeit. Radebolds Wirken war zudem regional ausgerichtet, indem er an der Erstellung des ersten Alten(Entwicklungs-)planes der Stadt Kassel mitarbeitete und an der Universität die interdisziplinäre Arbeitsgruppe für Angewandte Soziale Gerontologie (ASG) gründete, deren langjähriger Sprecher er war. Sein Credo, dass psychische und soziale Entwicklung und Genesung in jedem Lebensalter und somit auch im hohen Alter möglich ist, wurde durch sein Wirken gesellschaftlich anerkannt. Viele seiner Studierenden und wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen traten in den folgenden Jahrzehnten regional, national, aber auch international für die soziale Teilhabe Älterer, für die Psychotherapie Hochbetagter und multimorbider Menschen, wie auch für ein psychoanalytisches Verständnis des Alterns und des Alters ein.
Radebold gehörte zu den Gründungsmitgliedern des Alexander-Mitscherlich-Instituts in Kassel und wirkte dort als Lehranalytiker der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung an der Ausbildung von Psychoanalytiker:innen und Psychotherapeut:innen mit. Bis zuletzt nahm er an den von ihm 1988 initiierten jährlichen Symposien „Psychoanalyse und Altern“ im Gießhaus der Universität Kassel aktiv teil.
Nach seiner Emeritierung wandte sich Hartmut Radebold mit großem Einsatz und gemeinsam mit seiner Frau, der Bibliothekarin Hildegard Radebold, geb. Spiegel einem neuen wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Feld zu: Die lebenslangen Folgen von Krieg, Flucht, Vertreibung und Verfolgung für die psychosoziale Entwicklung der damaligen „Kriegskinder“.
Hierzu zählt insbesondere die Gründung des interdisziplinären Forschungsverbundes „weltkrieg2kindheiten“ und ein intensiver wissenschaftlicher Diskurs, unter anderem mit dem Sonderforschungsbereich 434 „Erinnerungskulturen“ an der Justus-Liebig-Universität Gießen und dem Kulturwissenschaftlichen Institut des Landes Nordrhein-Westfalen in Essen. Die Mitglieder dieser Forschungsgruppe repräsentieren den hochrangigen interdisziplinären Austausch, der viele Jahre lang auch den öffentlichen Diskurs prägte und in die Disziplinen Entwicklungspsychologie, Psychoanalyse, Psychosomatik/Psychotherapie, Gerontologie, Zeitgeschichte. Soziologie, Sozialwissenschaften, Literatur- und Rechtswissenschaft hineinwirkte.
Neben dieser wissenschaftlichen Aufarbeitung steht Hartmut Radebold für eine außerordentlich eloquente, beispielhaft sowohl präzise als auch verständliche Form der Vermittlung interdisziplinär gewonnener wissenschaftlicher Erkenntnisse an die und für die Gesellschaft und damit für die Beförderung eines öffentlichen Diskurses über die destruktiven Langzeitfolgen von Krieg und kollektiver Gewalt.
Dieses Lebenswerk ist orientiert an wissenschaftlicher Integrität verbunden mit einem Engagement für gesellschaftliche Gruppen Beeinträchtigter und Benachteiligter, der Verantwortung für historische Tatsachen und der Suche nach wissenschaftlichen Fundamenten von Solidarität, Entwicklung und Fürsorge. 1974 und 1983 wurde er für seine Verdienste mit dem Max- Bürger- Preis der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie ausgezeichnet, 2006 erhielt er den Preis der Egnér-Stiftung. 2009 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen.
Hartmut und Hildegard Radebold waren für viele Kolleg:innen bis zuletzt in ihrer hochkompetenten, besonnenen und warmherzigen Zuneigung wichtige Lehrer, Begleiter und Freunde. Wie beide es sich immer gewünscht haben, ist er nur wenige Stunden nach ihr verstorben.
Prof. Dr. med. Reinhard Lindner
Fachgebiet Theorie, Empirie und Methoden der sozialen Therapie
Institut für Sozialwesen
Fachbereich Humanwissenschaften
Universität Kassel