Zurück
27.05.2024 | Literaturkritik

»Ministerium der Träume« von Hengameh Yaghoobifarah – Gefangen in der Traum(a)fabrik

von Jenna Marlene Dittig

Traum oder Albtraum? Diese Frage muss sich Nasrin stellen, nachdem sie gemeinsam mit ihrer Mutter und der jüngeren Schwester Nushin Anfang der 1980er Jahre aus dem Iran nach Deutschland geflüchtet ist. Schnell stellt sich heraus, dass das Leben in Deutschland nicht der Traumvorstellung entspricht, sondern die knallharte Realität auf sie wartet. Unter Einbezug der Vergangenheit und Gegenwart erzählt Hengameh Yaghoobifarah im Debütroman Ministerium der Träume (2021), welcher im Verlag Blumenbar erschienen ist, die Geschichte der Familie authentisch.

 

Als Nasrin erfährt, dass ihre Schwester Nushin bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist, ändert sich ihr Leben schlagartig. Sie muss nicht nur den Tod ihrer Schwester verarbeiten, sondern zugleich in die Rolle der Erziehungsberechtigten ihrer Nichte Parvin schlüpfen. Als sie eine Nachricht ihrer Schwester auf dem Anrufbeantworter findet, welche diese vor ihrem Tod aufgenommen hat, beschließt Nasrin, den mysteriösen Ursachen ihres Todes auf den Grund zu gehen. Auf der Suche nach Antworten begibt sie sich auf eine Zeitreise in die Vergangenheit in Teheran, die Kindheit in Lübeck und das gegenwärtige Leben in Berlin.

 

Die Leser:innen erhalten einen Einblick in prägende Ereignisse in Nasrins Leben. Sie erfahren, dass die Hoffnungen der Familie auf ein besseres Leben in Deutschland zerschlagen wurden, nachdem der Vater im Iran hingerichtet wurde. „Baba wird nicht nach Deutschland kommen.“, verkündet die Mutter. Keine offene Trauer, stattdessen emotionale Kälte in der Familie. Das Leben muss weitergehen. Doch ist das Leben der Familie in Deutschland tatsächlich so, wie sie es sich vorgestellt haben?

 

Beschäftigt mit ihrem eigenen Schmerz gelingt es Nasrins Mutter nicht, ein Zuhause für ihre Töchter in Deutschland zu schaffen. Stattdessen hat Nasrin ständig das Gefühl, nicht dazuzugehören. Sie ist eine Tante, die mit der Mutterrolle überfordert ist. Eine „Nasrin“ unter lauter „Annikas“ beim Elternabend. Eine migrantische Lesbe in ihren Vierzigern in der jungen, queeren Berliner Clubszene. Eine Enttäuschung für die homophobe Mutter. Ein ausgegrenztes Mitglied der ursprünglichen Clique. Eine Fremde im (mittlerweile nicht mehr ganz) neuen Land.

 

Yaghoobifarah hat mit Nasrin eine Figur geschaffen, die gefangen zu sein scheint in einem Geflecht aus Ausländerfeindlichkeit, Rechtsextremismus, Homophobie und Traumata. Obwohl Nasrin sich wünscht, vor den traumatischen Erinnerungen der Vergangenheit zu fliehen, holen diese sie immer wieder ein. Den Verlust des Vaters und des Zuhauses im Kindesalter sowie die Vergewaltigung als Jugendliche konnte sie bisher nicht verarbeiten. In wiederkehrenden Sequenzen, in welchen die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit scheinbar verschwimmen, werden Nasrins Traumata anschaulich dargestellt. Hier tauchen immer wieder dieselben Motive auf: ein Telefon, Feuer und Scheinwerfer. Geister der Vergangenheit, die Nasrin ihre Vergangenheit nicht vergessen lassen. Stattdessen bleibt sie gefangen in der Traumafabrik.

 

Hengameh Yaghoobifarah beschreibt die Geschichte von Nasrin und ihrer Familie mitfühlend und gleichzeitig brutal ehrlich. Durch die Verwendung von außergewöhnlichen Sprachbildern wird eine Visualität der Geschehnisse geschaffen, welche Leser:innen das Gefühl gibt, selbst Teil der Handlung zu sein. In einem Wechsel von Ernsthaftigkeit und Humor prangert Yaghoobifarah Stereotype an und zeigt Abgründe der deutschen Gesellschaft. Wie gewohnt scheut sich Hengameh Yaghoobifarah nicht, konfliktgeladene Themen, wie beispielsweise Polizeigewalt, anzusprechen und regt somit zum Nachdenken an. Der Debütroman Ministerium der Träume erregt folglich die Aufmerksamkeit, die er verdient.