Themen- und Forschungsschwerpunkte
In den einzelnen Themen- und Forschungsfeldern gilt es entsprechend der zentralen Fragestellung des Graduiertenkollegs herauszuarbeiten, wie sich die Steuerungsleistungen von organisierten Interessen entwickeln, wenn sich Risiken verändern, bzw. inwieweit organisierte Interessen die Veränderungen unterstützen oder behindern. Dazu gehört auch die Frage, wie diese „neuen Risiken“ kognitiv erfasst und gedeutet werden, wie sich also das Denken über den Wohlfahrtsstaat verändert. Steuerung setzt schließlich neben einer Identifikation der Interessenlagen nicht zuletzt Ideen/ Konzepte und Institutionen voraus (vgl. Fischer/Forester 1993; Nullmeier/Rüb 1993).
Die Interessengruppen- und Verbändeforschung hat in den letzten Jahren mit der Debatte um das Verhältnis von Korporatismus, Pluralismus und Lobbyismus solide Fortschritte erreicht (überblicksartig vgl. Streeck 1994; Streeck 2006; Winter 2004; Höpner 2007). In dieser Debatte wurde auch auf Verbände und ihre Funktionen im Wohlfahrtssektor eingegangen (vgl. Backhaus-Maul/Olk 1994; von Winter 1990; Schmid 1996; Bandelow 1998). Heute wird vor allem die Frage diskutiert, inwieweit die in den „alten“ Sektoren der Sozialpolitik dominanten korporatistischen Regelungsformen an Bedeutung verlieren und durch eine Stärkung von Wettbewerbselementen zurückgedrängt werden (vgl. Evers/Heinze 2008). Die Diskussion über veränderte Steuerungsmodi in der Sozialpolitik hat nicht einfach zu dem Ergebnis geführt, von einer Erosion des Korporatismus zu sprechen, sondern vielmehr von seiner Transformation. Allerdings ist die empirische Untersetzung dieser Thesen weiterhin entwicklungsbedürftig (vgl. Trampusch 2005; Noweski 2004; Gerlinger 2009; Schroeder/Paquet 2009).
Die Verbändeforschung hat sich zwar ebenso dem sozialpolitischen Bereich gewidmet, doch gerade in den Gebieten, in denen sich neue sozialpolitische Entwicklungen und Anpassungsprozesse vollziehen, gibt es bislang kaum Untersuchungen. Besonders im steuerfinanzierten Bereich des Wohlfahrtsstaates, in dem soziale Dienste die primäre Form der Wohlfahrtsproduktion darstellen (vgl. Evers/Heinze/Olk 2011), spielen Interessenorganisationen eine untergeordnete Rolle. Dies ist teilweise durch die Struktur der neuen Risiken und Problemlagen bedingt, die für diesen Bereich kennzeichnend sind. Diese Konstellation wird in der Verbändeforschung häufig mit dem Konzept schwacher Interessen in Verbindung gebracht (vgl. Schroeder/Hänlein 2010; von Willems/von Winter 2000; Offe 2006;). Die Verbändeforschung hat sich besonders um einzelne Bereiche wie die Wohlfahrtsverbände (vgl. Schmid/Mansour 2007; Boeßenecker 2005), die Ärzteverbände (vgl. Bandelow 2007) oder die Sozialverbände (vgl. Schroeder/Munimus/Rüdt 2010) gekümmert. Angesichts der komplexer und kleinteiliger werdenden Interessenlagen scheint es jedoch darüber hinaus sinnvoll, zu untersuchen, wie und durch wen beispielsweise die Interessen von Alleinerziehenden oder von Demenzkranken und ihren Angehörigen – beides bekanntlich wachsende Gruppen, die allerdings im Vergleich zu den oben genannten Gruppen als "schwache" Interessen zu bezeichnen wären (vgl. Clement et al. 2010) – vertreten werden. Der Gesetzgeber hat die Selbsthilfeverbände – zusätzlich zur traditionell starken Rolle der freien Wohlfahrtspflege – an mehreren Punkten der Wohlfahrtsproduktion und Beratung berücksichtigt (z.B. § 20 SGB V; § 29 SGB IX – Selbsthilfeförderung; § 92c SGB XI – Beteiligung an Pflegestützpunkten). Diese neuen Formen sind bisher kaum systematisch erforscht. Besonderes Gewicht in der korporatistischen Interessenvermittlung hatten die Arenen der Selbstverwaltung in den wohlfahrtsstaatlichen Institutionen. Dazu gibt es einige Forschungen (Schroeder 2008; Braun/Klenk/Kluth/Nullmeier/Welti 2009; Klenk/Haarmann/Weyrauch/ Nullmeier 2012). Doch es gibt Veränderungen in den Selbstverwaltungsorganen, die bislang wenig wissenschaftlich reflektiert wurden. Hinzu kommt, dass es eine Reihe von neuen Interessenorganisationen (Verbraucher, Patienten, behinderte Menschen) gibt, die sich teilweise innerhalb, teilweise außerhalb der Selbstverwaltungskörperschaften bemerkbar machen (vgl. Lentz/Schulz/Welti 2010).
Im Forschungsfeld zur Regelung derArbeitsbeziehungen in Deutschland soll danach gefragt werden, wie die an der Tarifpolitik beteiligten Interessenorganisationen den demografischen Wandel, neue Lebenslagen und Risiken in ihren Organisationen rezipieren und bei der Gestaltung der Arbeitsbeziehungen berücksichtigen. In konflikttheoretischer Perspektive waren es die organisierte Arbeiterbewegung und die mit ihr verbundenen Parteien, welche die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates wesentlich mit voran getrieben haben (vgl. Korpi 1983; O‘Connor/Olson 1998). Es sind also insbesondere die Gestaltungskraft von Gewerkschaften auf der einen (vgl. Schroeder/Weßels 2003) und von Arbeitgeberverbänden auf der anderen Seite (vgl. Schroeder/Weßels 2010), die zusammen in der Tarifpolitik und den Gremien der Sozialen Selbstverwaltung (vgl. Schroeder 2008) den Sozialversicherungsstaat in Deutschland über Jahrzehnte prägten.
In diesem Forschungsfeld geht es ebenso darum, zu untersuchen, inwieweit einzelne Interessenorganisationen wie die Gewerkschaften selbst von der Alterung der Bevölkerung betroffen sind und wie sie mit dieser Veränderung umgehen (Schroeder/Munimus 2011). Eine wichtige Frage betrifft hier die Vorkehrungen und Maßnahmen wie Ältere im Arbeitsprozess gehalten werden (BAuA/INQA 2011). Ein anderer Aspekt der Fragestellung bezieht sich auf die Verlängerung der Lebensarbeitszeit sowie mögliche und notwendige Formen der Qualifizierung und der Neuerwerbung und Anpassung beruflicher Qualifikationen. Dies betrifft demografie-orientierte Tarifverträge und die Frage, inwieweit es den Tarifvertragsparteien gelingt, neue Themen, welche die Strukturierung des Lebensverlaufs und neue Risiken betreffen, mit in die Regulierung einzubeziehen. Hier stellt sich insbesondere die Frage nach der Gestaltungsmacht organisierter Interessen, wenn Einfluss- und Organisationsmacht abnehmen und neue Akteure wie Sparten- und Berufsgewerkschaften (vgl. Schroeder/Kalass/Greef 2011) auftreten.
Im Graduiertenkolleg wird sich ein Forschungsfeld mit dem Beginn des Altersspektrums, in dem die reproduktive Basis der Gesellschaft zu verorten ist, und dem dort notwendigen infrastrukturellen Setting befassen. Dieses Forschungsfeld umfasst die Themen frühkindliche Bildung, Betreuung, Vereinbarkeit von Beruf und Familien, Bildung, Erziehung, Familie und die demografische Entwicklung. Sinkende Geburtenraten, steigende Lebenserwartung, die Veränderung der Familienformen und damit zusammenhängend die Verschiebung des Alters bei der Erstelternschaft führen zu wachsenden wohlfahrtstaatlichen Handlungserfordernissen (vgl. Esch/Mezger/Stöbe-Blossey 2005; BMFSFJ 2006; Fthenakis 2003). Dieser Bereich wird immer wichtiger für sozialstaatliche Policies, weil er die wohlfahrtsstaatliche Bearbeitung neuer Risiken und Lebenslagen betrifft. Insbesondere geht es hier um die Fragen, wie sich das Zusammenspiel des „alten“ und des „neuen“ Wohlfahrtsstaates gestaltet und welche Konflikte auftreten. Im Gegensatz zu Versicherungssystemen werden in diesem Bereich überwiegend steuerfinanzierte Leistungen vor allem durch soziale Dienste, in der Regel auf kommunaler Ebene wohnortnah und im direkten Kontakt, erbracht (vgl. Hartmann 2011). In diesem Forschungsfeld ist auch deutlich, dass sich, im Gegensatz zum „alten“ Wohlfahrtstaat, bislang keine schlagkräftigen Interessenorganisationen formiert haben, wenn man nicht neue und alte Träger der Wohlfahrtspflege sowie Jugendhilfe in ihrer Doppelrolle als Organisatoren von Diensten und Einrichtungen sowie Interessenverbänden als solche erkennen will (Diakonie, Caritas, Arbeiterwohlfahrt, Deutscher Kinderschutzbund, Elterninitiativen).
In dieses Forschungsfeld fällt auch das Thema Bildung, welches in Deutschland zunehmend zu einem wohlfahrtsstaatlichen Politikfeld wird (vgl. Busemeyer/Nikolai 2010). Die OECD-Studien zu den Leistungen des Bildungssystems (vgl. PISA 2000, 2003) und die Diskussionen um einen vorsorgenden Sozialstaat (vgl. Schroeder 2009, 2012) machen deutlich, dass Bildungserfolge Lebenslagen und -chancen beeinflussen. Dies betrifft insbesondere Familien mit Migrationshintergrund. Migration wird damit zunehmend zu einem wohlfahrtsstaatlichen Problemfeld (Mackert/Müller 2007). Auch hier zeigt sich, dass Interessengruppen eine untergeordnete Rolle spielen und sich die Interessen von Eltern oder Migranten nur selektiv bemerkbar machen. Von besonderer Bedeutung ist es daher, zu erforschen, wie und ob in diesem Bereichen des „neuen“ Wohlfahrtstaates die Themen Kinderbetreuung, frühkindliche Bildung, Lage der Familien, Erwerbstätigkeit von Frauen, kommunale Einrichtungen und Dienste rund um das Thema Bildung, Erziehung und Betreuung interessenpolitisch zur Geltung gebracht werden. Es stehen hier nicht einzelne Policies im Mittelpunkt, sondern es soll danach gefragt werden, welche interessenpolitischen Veränderungen in diesem Politikfeld identifiziert werden können, wie sich etablierte Interessenorganisationen verhalten und welchen Beitrag Unternehmen und Arbeitgeberverbände in den Bereichen Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Kinderbetreuung und lokale soziale Dienste leisten. In diesem Forschungsfeld soll darüber hinaus untersucht werden, welche Steuerungsleistungen von politischen Institutionen und Interessenorganisationen, insbesondere im kommunalen Raum erbracht werden (vgl. Bogumil/Holtkamp 2006). Es wird ebenfalls darum gehen, wie und ob die kommunalen Spitzenverbände, die etablierten Organisationen des Wohlfahrtsstaates (Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände etc.) und neu entstehende Interessengruppen diese neuen Risiken (vgl. Esping-Andersen 2009) aufnehmen und auf die politische Agenda bringen. Ein wichtiges Themengebiet sind auch die Interessen von Migranten sowie die Art und Weise in der sie artikuliert werden – advokatorisch, durch Selbstorganisationen oder durch staatlich angebotene Foren und Institutionen der Konsultation (vgl. Mikuszies et al. 2010; Musch 2011).
Mit dem Forschungsfeld Pflege, Betreuung Älterer und palliativmedizinische Versorgung widmet sich das Graduiertenkolleg dem anderen Ende des Altersspektrums. Durch sinkende Geburtenraten und die Verlängerung der Lebenszeit verändern sich die Altersstruktur und das Generationenverhältnis der Bevölkerung (vgl. Kaufmann 2005; Kocka/Kohli/Streeck 2009; Birg 2001, 2005). Dies hat in mehrfacher Hinsicht Auswirkungen auf den Wohlfahrtsstaat. Gerade hier wird deutlich, wie stark die zentralen sozialen Risiken aus der industriellen Arbeitswelt in den Hintergrund treten. Im „postindustriellen Wohlfahrtstaat“ (Esping-Andersen 2006) werden die neuen Risiken wichtiger, die mit den hier zu untersuchenden Lebenssituationen verbunden sind. Diese Entwicklung setzt die umlagefinanzierten Sozialversicherungssysteme unter Druck und es entwickeln sich mit der Pflege, der Betreuung Älterer und der palliativmedizinischen Versorgung spezielle Bereiche sozialer Dienstleistungen (vgl. Strünck 2010). Der Anteil Hochbetagter und Pflegebedürftiger steigt, sie gewinnen an Gewicht, doch es ist fraglich, ob sie auch in der Lage sind, ihre Interessen zu bündeln und in der politischen Arena zu vertreten. Die Bedeutung sozialer Dienste in diesem Bereich wächst (vgl. Schmid 2011) und die Formen der Erbringung und Finanzierung dieser Dienstleistungen verschieben sich zwischen Individuum, Familie, Staat, intermediären Organisationen, Markt und freiwilligem Sektor. Mit der Einführung der Pflegeversicherung hat sich ein Markt von stationärer und ambulanter Pflege jenseits der etablierten korporatistischen Strukturen entwickelt, der sehr dynamisch ist. Gesetzliche Veränderungen wie das Pflegeweiterentwicklungsgesetz von 2008, das wachsende Angebot an privaten Pflegedienstleistungen und die jüngeren Entwicklungen im palliativmedizinischen Bereich bilden die Basis für die Formierung kollektiver Interessen, insbesondere auf der Seite der Leistungsanbieter.
Die neue Option, Selektivverträge zwischen Kassen und Ärzten abzuschließen, ist ebenfalls relevant für die Interessenvermittlung. Im Vorfeld versuchen die jeweiligen Akteure ihre eigenen Interessenlagen in Form von Leitlinien als Norm durchzusetzen. Unter welchen Umständen dies gelingt und welche gegenläufigen Interessen artikuliert werden, lässt sich zum Beispiel an der Palliativversorgung studieren. Dort gibt es sehr unterschiedliche Konzepte – etwa hausärztezentriert oder an Experten-Teams von Palliativmedizinern ausgerichtet.
In diesem Forschungsfeld sollte untersucht werden, wie sich auf Grund der gesetzgeberischen Aktivitäten die Akteurslandschaft kollektiver Interessen verändert hat. Insbesondere soll der Zusammenhang von demografischem Wandel und der Ausbildung von Organisationen im Politikfeld der Gesundheit untersucht werden. Hier wird es auch darum gehen, wie die Gesetzgebungspolitik und Gesetzesreformen zu Ressourcenverschiebungen zwischen bestehenden Organisationen sowie zur Entstehung von neuen Organisationen führten und welche Defizite es bei der Bildung von Kollektivinteressenorganisationen gibt. Aus einer organisations- und verbändetheoretischen Perspektive geht es um neue Erkenntnisse in der Staat-Verbände-Beziehung sowie um die Rolle und die Möglichkeiten von schwachen Interessen.
Das Forschungsfeld Generationeninteressen ist für das Graduiertenkolleg von übergreifendem Interesse, denn der Wohlfahrtsstaat strukturiert auch die Generationsbeziehungen (vgl. Kohli 2004, Blome/Keck/Alber 2008). Der demografische Wandel verändert nicht nur den Altersaufbau der Gesellschaft, er führt gleichzeitig dazu, dass sich in der politischen Arena und in den verschiedenen Politikfeldern zunehmend Interessen von bestimmten Alterskohorten bemerkbar machen. Dies geschieht aber nicht gleichmäßig, sondern ist von vielen Faktoren abhängig. Ein Faktor ist die generelle Ausweitung der unkonventionellen politischen Partizipation seit Ende der 1960er Jahre. Ein anderes Faktorenbündel verweist auf die Mitsprache- und Mitgestaltungsmöglichkeiten im politischen System und im wohlfahrtsstaatlichen Arrangement. Auf den verschiedenen Ebenen des politischen Systems werden auch zunehmend Möglichkeiten institutionalisiert, mit denen sich Generationeninteressen zum Ausdruck bringen können. Generationeninteressen sind im Generationenvertrag institutionalisiert, der die Grundlage des umlagefinanzierten Alterssicherungssystems und der Pflege ist (vgl. Schroeder/Neumann 2009; Kohli 1999).
Von besonderer Bedeutung ist daher, in welchen Organisationsformen sich Generationeninteressen neu herausbilden und wie sie sich in den etablierten Interessenorganisationen bemerkbar machen (vgl. Schroeder/Munimus/Rüdt 2010; von Winter 2007). Dies betrifft die zentralen Institutionen der politischen Willensbildung auf den verschiedenen politischen Ebenen und die etablierten Organisationen des Sozialstaates, die in den korporatistisch organisierten Politikprozess einbezogen sind. Eine andere Frage ist, wie sich Generationeninteressen im postindustriellen Wohlfahrtsstaat im Kontext der neuen Risiken zur Geltung bringen. Neben den übergeordneten Mustern der Interessenvermittlung durch Wohlfahrts- und Sozialverbände finden sich sowohl auf lokaler wie auch auf Landesebene Senioren- oder Generationenbeiräte, vielfach bereits durch die Gemeindeordnungen der Länder und das Jugendhilferecht (§§ 8, 80 SGB VIII) gefordert sowie andere Organisationsformen.
Wissenschaftliche und gesellschaftliche Relevanz des Forschungsvorhabens
In der wissenschaftlichen Forschung zur Sozialpolitik wird gegenwärtig von einer Zeitenwende des europäischen, westlichen Wohlfahrtsmodells gesprochen (DFG-Perspektiv¬kommission, Bericht, Mai 2011). Diese Zeitenwende, die insbesondere die Interessengruppen und das neue Aufgabenspektrum wohlfahrtsstaatlicher Politik betrifft, erfordert neue wissenschaftliche Anstrengungen, Fragestellungen sowie theoretische und methodische Konzepte, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Das Graduiertenkolleg, als koordiniertes Forschungsvorhaben mit seinen Teilprojekten, kann die neue Ära wohlfahrtsstaatlicher Politik sozialwissenschaftlich erfassen und damit zu neuen Ergebnissen beitragen. Dies betrifft ganz besonders die Interessenorganisationen mit ihren sozialpolitischen Postionen und die Interessen, die von besonderer Relevanz für wohlfahrtsstaatliche Politik sind, es aber bislang nicht geschafft haben, sich zu organisieren und die Policies zu beeinflussen. Das Graduiertenkolleg hat das Ziel, gerade im Bereich der Interessengruppenforschung zu neuen Einsichten zu gelangen. Ein zentraler Punkt wird daher sein, Antworten auf die Frage zu finden, welche Alternativen zur korporatistischen Politiksteuerung beobachtet werden können.
Mit den Ergebnissen der Dissertationen aus den gewählten Forschungsfeldern können auf drei Ebenen Antworten auf Forschungsdesiderate gegeben werden. Auf der Ebene der Verbändeforschung kann mit dem gewonnenen Material und den Interpretationen versucht werden, zu neuen theoriegeleiten Einsichten über die Gesellschaft-Staat-Verbände-Beziehungen zu kommen. Bezogen auf die Forschung zur Sozialpolitik soll ein Beitrag zur Problemlösungs- und Steuerungsfähigkeit von kollektiven Akteuren erzielt werden. Hier geht es auch um genauere Kenntnisse der Bedingungen von Interessengruppenbildung in Verbindung mit den wohlfahrtsstaatlichen Reorganisationsprozessen. In diesem Zusammenhang kann die Perspektive der Verbändeforschung weiter verfolgt werden. Auf der Policy-Ebene kann drittens ein genaueres Bild über die Akteurslandschaft in den ausgewählten Politikfeldern gewonnen werden. Vor allem kann nachvollzogen werden, wie inhaltliche Ausgestaltungen von politischen Programmen zustande kommen. Daher wird die klassische akteurs- bzw. organisationszentrierte Perspektive der Verbändeforschung um Ansätze der kognitiven Politikwissenschaft erweitert. Nur so wird insbesondere auch eine genauere Bewertung möglich werden, welche Chancen schwer organisierbare Interessen haben, sich bemerkbar zu machen (Ruß 2005). Wir erwarten uns von dem gesamten Vorhaben neue Erkenntnisse, empirisch gesättigte Studien und begründete Hinweise darauf, ob und wie sich kollektive Interessenvermittlung entlang der neuen Risiken im Wohlfahrtsstaat verändern und was dies für den Sozialstaat, aber auch für die Demokratie, bedeutet.
Neben der wissenschaftlichen Relevanz kann dem Graduiertenkolleg ebenso eine gesellschaftliche und politisch-praktische Relevanz zugeschrieben werden. Die Teilprojekte haben aktuelle politische Fragen der wohlfahrtsstaatlichen Politik zum Gegenstand und versprechen Erkenntnisse, die nicht zuletzt unmittelbar für die politischen Akteure und den politischen Prozess von Bedeutung sind. Die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz des Graduiertenkollegs kann ebenso mit Bezugnahme auf die Förderschwerpunkte und den gesellschaftspolitischen Wertehorizont der Hans-Böckler-Stiftung beantwortet werden. Insbesondere soll es um die Rekalibrierung der wohlfahrtsstaatlichen Grundidee, angesichts der gravierenden gesellschaftlichen Veränderungen, gehen. Ziel ist es, Ideen und Konzepte für die Weiterentwicklung der wohlfahrtsstaatlichen Strategie zu liefern, um den neuen Lagen und Risiken gerecht werden zu können.