Als Teil der Olympiaanlagen von 1972 in München repräsentiert das Olympische Dorf eine außergewöhnliche Bauaufgabe der bundesrepublikanischen Nachkriegsmoderne. Aufgrund der spezifischen Bedingungen im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen wurde dem Projekt eine besondere repräsentative und symbolische Rolle impliziert. Gleichzeitig prägten intensive, gesellschaftspolitische Neuausrichtungen, die sich insbesondere auf dem Gebiet des Wohnungsbaus nachdrücklich auswirkten, Planung und Konzeption. Der daraus resultierenden Dualität - das Olympische Dorf zwischen Sonderfall und Prototyp - geht die Forschungsarbeit auf den Grund und kennzeichnet das Wohnungsbauprojekt einerseits als bemerkenswertes Planungsexperiment und andererseits als Musterstadt der Moderne. Die zentrale Frage, inwiefern die politischen und gesellschaftlich-kulturellen Strömungen der späten 1960er Jahre die spezifische Arbeitsmethodik des Planungsprozesses und die räumliche Konzeption des Olympischen Dorfes beeinflusst haben, führt rückschließend zu einer Charakterisierung dieser zeitlichen Phase der städtebaulichen und architektonischen Moderne, die sowohl einen Höhepunkt markiert als auch paradigmatische Veränderungen in die Wege leitete.
Anhand des nachgezeichneten Planungsvorgangs des Olympischen Dorfes wird repräsentativ nachvollzogen, inwiefern sich Stadtplaner und Architekten damals mit gesellschaftlichen Fragen auseinandersetzten und anhand der Enthierarchisierung von Planungsprozessen und der Gestaltung von Lebensraum versuchten, ihre Vorstellung von Gesellschaft in prozessualen und räumlichen Strukturen abzubilden. Neben der Auswertung von Originalquellen und historischen Positionen fließen Geisteshaltungen beteiligter Protagonisten und Zeitzeugen ein und veranschaulichen die ambitionierte Planungskultur jener Zeit.
Von den Methoden des „Design Method Movement“ der 1960er Jahre angeregt, suchten die verantwortlichen Stuttgarter Architekten Heinle, Wischer und Partner nach alternativen Strategien für das Entwerfen mit dem Ziel, den Planungsvorgang zu versachlichen, zu systematisieren und als komplexen, gemeinschaftlichen und interdisziplinären Vorgang zu verstehen. Die Untersuchung des Planungsexperiments machte deutlich, dass der Entwurfsprozess zwischen rationaler Messbarkeit und schöpferischer Intuition oszillierte. Neben der intendierten Hoffnung, durch die Integration wissenschaftlicher Methoden in die Planung optimale städtebauliche und architektonische Lösungen zu generieren, lassen sich am Planungsverfahren Olympisches Dorf der damalige Stellenwert von Teamarbeit und interdisziplinärer Planungsansätze sowie die Neuausrichtung der Architektenrolle exemplarisch nachvollziehen.
Da der Planungszeitraum (1968-72) in die „Transformationsphase“ der späten Moderne fiel, deren Leitbilder sich aus unterschiedlichen Strömungen heraus artikulierten, weisen städtebauliche Konzeption und räumlich-architektonische Ausformulierung des Olympischen Dorfes München die Koexistenz verschiedener und teilweise auch widersprüchlicher Motive und Merkmale auf, die diese Umbruch- und Orientierungsphase beispielhaft illustrieren. Die zentrale Bedeutung des öffentlichen Raums und die eingehende Behandlung des Spannungsverhältnisses von Individuum und Gemeinschaft im Kontext eines reziproken Verständnisses von Stadt und Gebäude („Architektur-Urbanismus“) dienten als wesentliche Katalysatoren des räumlichen Konzeptes und trugen letztendlich zur Qualität des Wohnquartiers bei. Die Ausformulierung einer Neuinterpretation der Straße und des Wohnhauses als den konstituierenden Elementen steht hier als Zeichen für den Übergang von der Stadtlandschaft der funktionalistischen Moderne hin zur postmodernen Stadt.
Die Zielsetzung der Forschungsarbeit gründet auf den folgenden grundlegenden Positionsbestimmungen:
- Die Herausarbeitung und kritische Reflektion der Auswirkungen gesellschaftspolitischer Veränderungen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre auf Architektur und Städtebau am Beispiel des Planungsprozesses und der Konzeption des Olympischen Dorfes
- Die Untersuchung von Inhalten und Merkmalen der „Transformationsphase“ der späten Moderne in Bezug auf Ambivalenz und Dualität in der städtebaulichen und architektonischen Planung am Beispiel des Olympischen Dorfes
- Die Darstellung und Bewertung eines Planungsprozesses als historisches, praktiziertes Beispiel aus einer Phase der Hochkonjunktur der Entwurfstheorien für einen möglichen theoretischen und methodischen Transfer in den gegenwärtigen Planungsdiskurs
- Die Schärfung des Bewusstseins für ein bemerkenswertes Beispiel des Wohnungsbaus der Nachkriegsmoderne in der Bundesrepublik Deutschland
- Die Erarbeitung eines Beitrags zu der geringen vorhandenen Quellenlage zum Olympischen Dorf München
Gutachterinnen: Prof. Dipl.-Ing. M.Arch. Maya Reiner / Prof. Dr.-Ing. Iris Reuther
Natalie Heger (2013)