Raumpraktiken der Documenta

Architekturwissenschaftliches Forschungsprojekt

(Prof. Philipp Oswalt)

Thema

Die documenta, zunächst als einmalige Kunstausstellung anlässlich der Bundesgartenschau in Kassel 1955 realisiert, etablierte sich als alle fünf Jahre stattfindendes Großereignis, welches jedes Mal aufs Neue räumlich zu erfinden war. Der Ausstellungsort der documenta 1, das Fridericianum, wurde zum einzigen (wenn auch sich selbst verändernden) Fixum, das seitdem als einziger Ort von jeder documenta genutzt wurde und auch immer als Entree für die Gesamtschau diente. Inzwischen haben sich auch die Orangerie und die 1992 erbaute documenta Halle als stets genutzte Ausstellungsorte etabliert. Auch die Neue Galerie und der Kulturbahnhof wurden vielfach als Ausstellungsorte genutzt, während sich gleichwohl die räumliche Gesamtkonzeption der Ausstellungen von Mal zu Mal wesentlich veränderte.

Während die documenta 1 nur im Innenraum der Ruine des Fridericianum stattfand, expandierten die folgenden Ausstellungen räumlich (mit zwischenzeitlichen Kontraktionen): Auf der documenta 2 wurden Kunstwerke in der unmittelbaren Umgebung der Ruine der Orangerie und damit erstmals im Außenraum aufgestellt, mit der documenta 4 wurde die gesamte Karlswiese und auch der Friedrichsplatz genutzt, mit der documenta 6 dann die gesamte Karlsaue.

Nachdem bei der documenta 7 Joseph Beuys mit seinem Projekt 7.000 Eichen ein gesamtstädtisches Projekt realisiert hat und Lucius Burckhardt und Vladimir Nicolic bereits zur documenta 7 mit dem inoffiziellen Projekt "documenta urbana - sichtbar machen" eine Reihe von innerstädtischen Standorten gestalterisch thematisiert hatten, wandte sich die documenta 8 erstmals als Ausstellung konzeptuell der Kasseler Innenstadt zu: Sie realisierte zahlreiche Außeninstallationen im Stadtraum — ein Konzept, welches die documenta 9 weiterführte.

Eine weitere Intensivierung der städtischen Orientierung erfolgte durch den Urban Parcours der documenta X, bei der die Ausstellung selbst quasi eine urbane Intervention ist. Der Parcours erstreckt sich zwischen entlang der Treppenstraße von Fridericianum bis zum Kulturbahnhof.

Die documenta 11 verband mit ihrem Konzept diskursiver Plattformen die Kasseler documenta mit diskursiven Orten auf mehreren Kontinenten und sprengte damit erstmals den lokalen Rahmen mit einer globalen Ausdehnung der Aktivitäten. Die beiden folgenden documenta-Ausstellungen vertieften dieses Thema, indem sie Ausstellungssatelliten im Ausland realisierten. Für die kommende documenta 14 ist sogar angekündigt, Athen als zweiten und konzeptuell gleichberechtigten Ausstellungsort zu nutzen.


Ziel

Ziel der Forschungsvorhaben ist es, die Frage des Ausstellungsraumes der documenta an exemplarischen Fallbeispielen zu untersuchen — mit Fokussierung der urbanen-stadträumlichen Konzeption einerseits, der Ausstellungsinszenierung andererseits. These ist, das die räumliche Konzeption wesentliches Element der kuratorischen Konzeption ist, und Konstruktion und Rezeption der Ausstellung maßgeblich konfiguriert. Dabei schlagen sich intendierte theoretische Konzeptionen wie auch weniger bewusste kulturelle Prägungen in den räumlichen Konstellationen nieder. Diese gilt es in der Analyse zu dechiffrieren.


Konzeption und Durchführung

Zentrales Element der kuratorischen Konzeption der documenta ist die räumliche und insbesondere urbane Konzeption der Ausstellung (siehe KIMPEL 2012). In dieser schlagen sich mehrere konzeptuelle und theoretische Dimensionen nieder, die es gilt, in der Forschung zu untersuchen:

  1. Von Anfang an verfolgt die documenta eine dem White Cube entgegengesetzte Konzeption: Mit der Wahl der Ausstellungssorte werden ganz bewusst jeweils spezifische Settings für die Ausstellungsinszenierung gewählt, die unterschiedlich symbolisch konnotiert sind und die Kunst in jeweils anderer Form kontextualisieren. Das Spektrum reicht von der Kriegsruine über die temporäre Nachnutzung von Industrie- und Verkehrsbauten, die vorübergehende Aneignung bestehender Museen und Ausstellungsorte bis zur Ausstellung neuer, temporärer Ausstellungsarchitekturen. Als Museum auf Zeit experimentiert die documenta mit neuen Ausstellungskonzeptionen und setzt wichtige Impulse für das institutionelle Verständnis von Kunst, das zentrale Themen des Kunstsystems berührt (hierzu etwa O'DOHERTY 1996)
  2. Ein zweiter Schwerpunkt der Thematik liegt in der Realisierung von Ausstellungswerken außerhalb eines Ausstellungsraum im Außenraum, sei es Landschafts -oder Stadtraum. Während hiermit die Frage des institutionellen Raumes radikalisiert wird, rückt eine Thematisierung des Ortes und Kontextes durch die Kunst selber in einer Weise in den Fokus, wie es bei Kunstwerken in Ausstellungsräumen wenig der Fall ist. Damit wird Werkkonzeption und -verständnis von Kunst in neuer Weise hinterfragt und rekonzeptionalisiert, wie es sich in der Debatte um site specific art niedergeschlagen hat. (hierzu etwa DEUTSCHE 1996, DOHERTY 2004, GRASSKAMP 1989, KWON 2004)
  3. Temporäre Ausstellungsorte und site specific art verändern Werkcharakter von Ausstellungen und Kunstwerken. Wahrnehmung und Bedeutung realisieren sich erst im Zusammenhang mit dem Kontext und sind nicht durch eine singuläre Autorenschaft konstruiert, sondern verwirklichen sich im Zusammenspiel von Vorgefundenem, neu Geschaffenem und sich Entwickelndem. Je nach Konzeption und Rezeption öffnet sich das Werk für Interaktionen, Partizipation und Co-Produktion und redefiniert die Rolle des:der Ausstellungsbesucher:in und der städtischen Öffentlichkeit.
  4. Die documenta-Ausstellungen geben nicht nur Impulse für die Entwicklung des Verständnis von Kunst, Ausstellung und Kunstinstitutionen. Mehr noch schlagen sich in ihnen jeweils der Diskurs des jeweiligen Zeitkontextes nieder, zu denen neben den Kunstdiskursen unter anderem auch urbane Diskurse gehören. documenta-Ausstellungen sind somit Symptome für allgemeinere kulturelle Entwicklungen.

Die Erforschung soll an ausgewählten Beispielen, das heißt einzelnen Documenta-Ausstellungkonzeptionen erfolgen. Angedacht sind:

  • Documenta 1/5 – Konzentration - Introversion
  • Documenta (2 oder) 4/ 6 – Kunst im Außenraum
  • Documenta 8/9 – Urbane Intervention
  • Documenta 10 – der Parcours
  • Documenta 11/ 14 – globale Expansion

Ebenso sind ausgewählte Kunstwerke im Außenraum zu untersuchen (siehe hierzu: KIMPEL 1992, EPPERT 2014). Erfolgen sollen:

  • urbane Analyse der Ausstellungskonzeption und der Außenkunstwerke in Hinsicht auf physischen Raum, sozialen Raum, Symbolik: Was ist die Charakteristik des Stadtraums vor der documenta-Ausstellung? Wieso wurde der jeweilige Ort für die documenta ausgewählt, welche kuratorische Idee und Konzeption liegt dem zu Grunde und wie wurde diese entwickelt und ausformuliert? In welcher Weise nehmen Ausstellungskonzeption, -gestaltung und Kunstwerke auf die urbanen Gegebenheiten Bezug? Welche andere Charakteristik hat der Ort mit der documenta-Ausstellung und in welchem Spannungsverhältnis steht dies zum städtischen Alltag? Welche Wirkung hat dies auf die Wahrnehmung und Raumpraktik der Stadtbewohner:innen, und welche auf das Ausstellungspublikum?
  • Analyse von Ausstellungsgestaltungen physischen Raum, sozialen Raum, Zirkulation/ Besucherführung, Symbolik: Was ist die Charakteristik des jeweiligen Ausstellungsraums? Wieso wurde der jeweilige Raum für die documenta ausgewählt, welche kuratorische Idee und Konzeption liegt dem zu Grunde und wie wurde diese entwickelt und ausformuliert? Welche andere Charakteristik hat Raum mit der documenta-Ausstellung und in welchem Spannungsverhältnis steht dies zur vorherigen alltäglichen Nutzung des Raumes?
  • Akteurskonstellationen, Produktions- und Rezeptionsprozesse in Abhängigkeit der räumlichen Konstellationen: In welcher Weise beeinflussen und coproduzieren documenta-externe Akteure Ausstellung und Kunstwerke? Welche Interaktionen sind von Ausstellungsmacher:innen und Künstler:innen intendiert? Welche vollziehen sich ungeplant und warum?
  • Diskursanalytische Betrachtung räumlicher Gestaltungen in Bezug insbesondere auf Theoriebildungen in der Kunstpraxis und urbanen Theorie: Was ist der jeweilige internationale Kontext des Diskurses und Theoriebildung von Ausstellungskonzeptionen und Kunstinstitutionen, die sich in der jeweiligen documenta-Inszenierung niederschlagen? Was sind die jeweiligen urbanen Diskurse, welche bewusst oder unbewusst den Umgang mit städtischen Räume beeinflussen?

Als wichtiges Quellenmaterial für die Erforschung dienen insbesondere die Archivalien des documenta-Archives zu kuratorischen wie künstlerischen Konzeptionen und Realisierungen zu den ausgewählten Fallbeispielen. Weitere wichtige Quellen werden voraussichtlich Unterlagen des Stadtarchives, des Stadtverwaltung der Stadt Kassel, der (insbesondere lokale) Medien (HNA u.a.) sein.


Eigene Vorarbeiten

Forschungs- und Ausstellungsprojekt documentaEFFECTS 2007, welches kursorisch die Auswirkung der documenta auf die Stadt Kassel untersuchte. Lehrprojekt im Sommer 2007 an die Universität Kassel, Ausstellung im Stadtmuseum, Publikation mit Hörbuch: Philipp Oswalt, Carola Ebert u.a.: DocumentaEFFECTS: Was macht die Documenta mit der Stadt? Kassel 2007


Literatur

DEUTSCHE, Rosalyn: Evictions. Art ans Spatial Politics, MIT Press: Cambridge 1996

DOHERTY, Claire (Hrsg.) : From Studio to Situation, Black Dog Publishing 2004

EPPERT, Anja: documenta und der öffentliche Raum, Schriftenreihe des documenta-Archiv,
Kassel University Press 2014

GRASSKAMP, Walter (Hrsg.): Unerwünschte Monumente, Moderne Kunst im Stadtraum, München: Schreiber, 1989

KIMPEL, Harald: Aversion/ Akzeptanz. Öffentliche Kunst und öffentliche Meinung. Außeninstallationen aus documenta, Jonas Verlag Marburg 1992

KIMPEL, Harald: documenta. Die Überschau, DuMont Köln 2002

KWON, Miwon: One Place after another. Site-specific Art and Locational Identity, 2004

O'DOHERTY, Brian: In der weissen Zelle /Inside the White Cube, 1976/ Merve: Berlin 1996

OSWALT, Philipp; Ebert, Carola u.a.: DocumentaEFFECTS: Was macht die Documenta mit der Stadt? Kassel 2007