Endozoochorer Transport von Pflanzendiasporen durch den Rothirsch - Potenzial für Arten des wertgebenden Offenlands

Dissertation im FG Landschafts- und Vegetationsökologie

Hintergrund

Wissenschaftliche Studien zur Endozoochorie belegen für wildlebende, herbivore Säugetiere ein hohes Potenzial zum weitläufigen Transport von Diasporen (u.a. HEINKEN, HANSPACH & SCHAUMANN 2001; HEINKEN, V. OHEIMB, SCHMIDT, KRIEBITZSCH & ELLENBERG 2005; EYCOTT, WATKINSON, HEMAMI & DOLMAN 2007; STEYAERT, BOKDAM, BRAAKHEKKE & FINDO 2009; IRAVANI, SCHÜTZ, EDWARDS, RISCH, SCHEIDEGGER & WAGNER 2010; PANTER & DOLMAN 2012; AUFFRET & PLUE 2014).

Thematisiert werden u.a. der Vergleich der Transportspektren unterschiedlicher Wildarten (HEINKEN et al. 2001; HEINKEN et al. 2005, PANTER & DOLMAN 2012, JAROSZEWICZ, PIROZNIKOW & SONDEJ 2013), der Einfluss der Morphologie der Diasporen auf ihre endozoochore Transport- und Überlebenswahrscheinlichkeit (EYCOTT et al. 2007; PANTER & DOLMAN 2012), die pro Tier und Tag eingetragene Diasporenmenge (HEINKEN et al. 2001; V. OHEIMB et al. 2005; EYCOTT et al. 2007), die potenzielle Ausbreitungsdistanz über die kombinierte Betrachtung von Darmpassagezeit und Aktionsradius einer Wildart (HEINKEN et al. 2001; VELLEND, MYERS, GARDESCU & MARKS 2003; MOUISSIE & APOL 2004; STEYAERT  et al. 2009),  die Erreichungswahrscheinlichkeit eines geeigneten Wuchshabitats (STEYAERT  et al. 2009) oder die Keimungs- und Etablierungsmöglichkeit der transportierten Pflanzenarten unter Freilandbedingungen (WELCH 1985).

Während so im Detail mannigfaltige Fragestellungen vom eigentlichen Ausbreitungsprozess bis hin zum Nachausbreitungsschicksal der transportierten Diasporen behandelt werden, konzentrieren sich die Analyse(-ergebnisse) jedoch überwiegend auf das Transportgeschehen innerhalb und zwischen den noch verbliebenen Waldfragmenten. Diese stellen in einer intensiv genutzten Kulturlandschaft die beinahe einzigen „zugelassenen“ Rückzugs- und damit Hauptaufenthaltsbereiche für die störempfindsamen Wildtiere dar (DEUTSCHE WILDTIER STIFTUNG 2008). Die daraus entwickelte, studienübergreifende These, die untersuchten Wildarten seien dazu in der Lage, sogenannte „Alte Waldarten“ erfolgreich auszubreiten, wird allerdings übereinstimmend wiederlegt (HEINKEN et al.  2001; HEINKEN et al. 2005; EYCOTT et al. 2007; PANTER & DOLMAN 2012; JAROSZEWICZ et al. 2013). Vielmehr dominieren stets Ruderal- und Graslandarten die analysierten Spektren, die aber mit der in der „Ruhezone Wald“ abgesetzten, untersuchten Losung nur selten geeignete Keimungs- oder gar Etablierungsbedingungen erreichen (ebd.).

Obwohl die Untersuchungsergebnisse die Vermutung nahelegen, ist bis dato weitgehend unerforscht, ob das nachgewiesene Potenzial dieser Ausbreitungsweise seine tatsächliche vegetationsökologische Wirksamkeit weniger im Wald, sondern vielmehr im Offen- bzw. Halboffenland entfaltet. So ist bereits für Haustiere, explizit für Schafe (u.a. MANZANO & MALO 2006, BEINLICH & PLACHTER 2010, EICHBERG & WESSELS-DE WIT 2011) und Rinder (WELCH 1985, MOUISSIE, LENGKEEK & VAN DIGGELEN 2004), ein umfassender Beitrag zur Artendiversität im Offenland durch Endozoochorie belegt. Welche Effekte per se hierhingehend Wildtiere leisten, ist allerdings unklar, zumal gänzlich andere Verhaltensmuster und Ernährungsweisen veränderte Ergebnisse erwarten lassen (BONN & POSCHLOD 1998). Insbesondere fehlt es an Informationen über den wildtierbedingten Ein- und Austrag von Diasporen auf Flächen magerer und daher schützenswerter Offenlandbiotope, die sowohl im positiven (Verbreitung von gefährdeten Pflanzenarten, Beitrag zur Artendiversität), wie auch im negativen Sinne (Einschleppung von konkurrenzstarken Arten in sensible Bereiche, Sukzessionsförderung) wirken und damit die weitere vegetationsökologische Entwicklung der Flächen maßgeblich beeinflussen können.

Zielsetzung

Die Promotion setzt sich mit der zuvor hergeleiteten Thematik des endozoochoren Transports von Pflanzendiasporen auf Flächen nährstoffarmer Offenlandbiotope durch den Rothirsch intensiv auseinander. Ziel der modular aufgebauten Promotion ist es, den gesamten, zur erfolgreichen Ausbreitung notwendigen Prozess zu hinterleuchten. Angefangen von der Zusammenstellung des Diasporenspektrums während der Nahrungsaufnahme, über das eigentliche Transportgeschehen, bis hin zum Nachausbreitungsschicksal der einzelnen Arten. Hierzu rücken folgende Fragestellungen in den Fokus: 

  • Welche qualitative und quantitative Zusammensetzung weist das durch Rotwild endozoochor in Flächen des mageren Offenlands eingetragene Arten- und Diasporenspektrum auf? Wie unterscheidet sich dabei das Samenangebot der Flächen vom transportierten Spektrum? Wie hoch ist der Anteil gefährdeter und biotoptypischer Arten, wie hoch der Anteil an „biotopfremden“, evtl. sogar invasiven Spezies?
  • Wie hoch ist der tatsächliche Diasporen-Input in die untersuchten Flächen in Bezug auf Losungsmengen, deren räumlicher Verteilung und ihrem Diasporengehalt?
  • Welche Distanzen überwindet das Rotwild von der Nahrungsaufnahme (Samenquelle) bis zur Losungsabgabe (Sameneintrag)?
  • Wie ist dabei die Wanderung des Rotwilds in und zwischen den verschiedenen Wuchshabitaten zu sehen? Wie ist die Erreichbarkeit neuer geeigneter Wuchshabitate für wertgebende Arten gegenüber der Einschleppung von konkurrenzstarken Arten in sensible Bereiche durch eventuelle Unterschiede von Quell- und Senkbiotop einzuschätzen?
  • In welchem Ausmaß scheint das endozoochore Vektorpotenzial des Rotwilds Einfluss auf die Vegetationsdynamik der mageren Offenlandflächen nehmen zu können, z.B. im Hinblick auf das Etablierungspotenzial endozoochor transportierter Diasporen unter Freilandbedingungen?
  • Welchen Einfluss nimmt die unterschiedliche Produktivität (= Nahrungsattraktivität) verschiedener Offenland-Vegetationstypen auf die oben genannten Aspekte?

Der Rothirsch - hohes Vektorpotenzial

Von den hier zulande heimischen, noch freilebenden Säugetierarten übertrifft das Rotwild die meisten anderen Vergleichsvektoren sowohl in der transportierten Samenmenge, als auch in der Anzahl der über den Kot verbreiteten Arten (MÜLLER-SCHNEIDER 1948; MOUISSI, VEEN & V. DIGGELEN 2004; V. OHEIMB et al. 2005; EYCOTT et al. 2007; JAROSZEWICZ et al. 2013). Dabei ist weniger die Samen- und Artenzahl pro hundert Gramm Losung entscheidend, sondern mehr die große Menge und die Häufigkeit der abgesetzten Losung (ebd.). Diese wiederum ergibt sich aus der großen Körpergröße (=große Nahrungsmengen) des einzelnen Individuums sowie durch die Bildung großer Rudel (insbesondere im Offenland wurden Familienverbände von hundert und mehr Tieren beobachtet (MEIßNER, REINECKE & HERZOG 2012)).

Eine weitere besondere Vektorqualität liegt in den großen Aktivitätsradien der Wildart begründet, die das Potenzial zur weitläufigen Ausbreitung von Pflanzenarten immens steigern. So können die Streifgebiete großer Rotwild-Familienverbände mehrere hundert Hektar umfassen (KRÜGER 2004). Von Hirsch- und Jungtieren sind überdies Fernwechsel von über hundert Kilometern bekannt (WAGENKNECHT 1981; HOFFMANN 2010).

Der Fragestellung kommen weiterhin die beiden folgenden Aspekte zugute:

  • Das Rotwild ist, trotz hoher Flexibilität in der Lebensraumwahl, ursprünglicher Bewohner offener und halboffener Steppen. Darauf lassen kräftesparender Trabgang, hervorragendes Sehvermögen und Rudelbildung schließen (BENINDE 1937 zitiert in WOITSCHIKOWSKY & SIMON 2004). Somit ist auch der Verdauungsapparat auf ein breites Nahrungsspektrum ausgerichtet, wobei Gräser die Hauptrolle spielen (HOFMANN 1976 zitiert in WOITSCHIKOWSKY & SIMON 2004).
  • Da insbesondere der Kahlwildbestand Aufenthaltsschwerpunkte bildet, die vom Nahrungsangebot, aber in erheblichem Maße auch vom Sicherheitsbedürfnis der scheuen Wildtiere gelenkt werden (DEUTSCHE WILDTIER STIFTUNG 2010), besteht die Möglichkeit die Habitatwahl und Lebensraumnutzung der Tiere über zielorientiertes Jagdmanagement zu steuern. Als wesentliche Instrumente zur räumlichen Lenkung eines Bestandes stehen somit die Jagdruhe (Schaffung einer hohen Flächenattraktivität) auf der einen bzw. die Vertreibung (aktive Bejagung) auf der anderen Seite zur Verfügung. Dies erlaubt auf langfristige Sicht sogar eine kleinräumige Beeinflussung der Aufenthaltspräferenzen (HERZOG, REINECKE & MEIßNER 2010; MEIßNER et al. 2012).

Untersuchungsgebiet TüP und Hirschhimmel Grafenwöhr

Das von US-Streitkräften genutzte Truppenübungsplatzgelände und gleichnamige FFH-Gebiet (DE 6336-301) Grafenwöhr in der Oberpfalz eignet sich im besonderen Maße für die Untersuchung der genannten Fragestellungen.

So verfügt das insgesamt 23.000 ha große, kaum zerschnittene Areal neben deckungsreichen Flächen über mehr als 10.000 ha Offenland mit unterschiedlichen standörtlichen Voraussetzungen und damit einer großen Bandbreite an Vegetationsgesellschaften (MEIßNER 2014). Bedeutsam erscheinen vor allem die weitläufigen Grünlandflächen im Westen (überwiegend dem LRT 6510 magere Flachlandmähwiesen zuzuordnen) sowie die Sukzessionsflächen im Osten des Platzes (Übergänge zwischen LRT 4030 trockene europäische Heiden und LRT 6210 artenreiche montane Borstgrasrasen).

Weiterhin haben dort jahrzehntelange, wildtiermanagementspezifische Besonderheiten  und der gänzliche Ausschluss der Öffentlichkeit dazu geführt, das nicht nur ein regional hoher Rotwildbestand vorherrscht (offizielle Schätzungen belaufen sich auf ca. 5.000 - 6.000 Stück), sondern vor allem, dass das scheue Wildtier ein naturnahes Verhalten mit deutlicher Präferenz zum Offen- und Halboffenland entwickeln konnte (MAUSHAKE 2003, 2010; MEIßNER et al. 2012).

Fachgebiets- und Planungsbezug

Der Fachgebietsphilosophie gerecht werdend, umfasst die Promotion maßstabsübergreifende Untersuchungen und die damit verbundene Erstellung elementarer Wissens-, Argumentations- und Planungsgrundlagen. So sind auf Art- und Habitatebene Aussagen zur Ausbreitung von Zielarten gefährdeter Offenlandbiotope, zur Förderung der lokalen Biodiversität und zu Synergien zwischen Tier und Pflanze ebenso Bestandteil der Arbeit, wie solche zur Habitat- und Biotopvernetzung im Landschaftsmaßstab durch weiträumig agierende Weidetiere. Im Ergebnis leistet die Schrift in gleich mehrfacher Hinsicht einen Beitrag zur Klärung wichtiger und höchst aktueller Fragestellungen aus dem Bereich Naturschutz und Landschaftspflege:

  • Management von wertgebenden Offenlandlebensraumtypen der FFH-RL in Wildniszonen: Der Zielkonflikt zwischen der Erhaltung wertgebender Offenlandlebensraumtypen durch regelmäßig wiederkehrende Eingriffe durch den Menschen einerseits und der Einrichtung von sich selbst überlassenen Wildniszonen andererseits führt in der Naturschutzpraxis zu bis dato ungelösten Problemen. Die Betrachtung von natürlichen Einflussfaktoren, die zur Offenhaltung, aber auch zum funktionalen Verbund dieser speziellen Lebensraumgefüge beitragen können, erlangt daher zunehmende Relevanz. Insbesondere der Einfluss von (freilebendem) Großwild, als entwicklungsgeschichtlich fester Bestandteil der meisten Landschaften, ist in diesem Zusammenhang zu klären (vgl. hierzu auch BfN-Konzept: Weidelandschaften und Wildnisgebiete).
  • Rotwildmanagement: Der anhaltende Lebensraum- und Jagddruck, der in Deutschland auf den noch verbliebenen Rotwildbeständen lastet, wird zunehmend scharf diskutiert und kritisiert. Falsches Wildtiermanagement, das zu „Rotwildkonzentrationen in ausgedehnten Dickungen und Stangenhölzern“ führe, sei u.a. auch an den viel beklagten Waldschäden beteiligt. (DEUTSCHE WILDTIER STIFTUNG 2010). In nur wenigen Gebieten jedoch werden veränderte Managementstrategien erprobt, die zu einer Verbesserung der jetzigen Situation beitragen können. Auf dem Truppenübungsplatz Grafenwöhr wurde seit über drei Jahrzehnten, neben einem strikten Regulativ der jagdlichen Eingriffe (erhebliche Verkürzung der Jagdzeiten), ein System der räumlichen Lenkung aus einerseits jagdberuhigten Bereichen (vornehmlich im  Offenland) und andererseits intensivierter Bejagung im Wald etabliert. Die  Attraktivitätssteigerung der Flächen hat somit die ganzjährig vermehrte Nutzung des Offenlandes durch das Rotwild und damit auch ein naturnahes Verhalten dieser Wildart gefördert (MAUSHAKE 2010; MEIßNER et al. 2012; MEIßNER 2014). Für das Vorhaben bietet sich damit die in Deutschland nahezu einmalige Chance, das tatsächliche Einflusspotenzial freilebender, autochthoner Rotwildbestände in einem naturnahen, störungsarmen Lebensraum zu untersuchen. Die Ergebnisse wiederum können als Wissens- und Argumentationsgrundlage in zukünftige Planungen zum Wildtiermanagement einfließen.

Kooperationsprojekt

Die Promotion findet als Kooperationsprojekt des 2014 gestarteten Projekts „Erhaltung von Offenlandschaften durch zielgerichtetes Flächen- und Wildtiermanagement  - Integration freilebender Rothirschvorkommen in das Offenlandmanagement“ der Partner Institut für Wildbiologie Göttingen und Dresden e.V., Georg-August-Universität Göttingen und Technischer Universität Dresden statt.

Das Projekt untersucht - durch die Analyse der Habitatnutzung des Rotwilds im Jahresverlauf auf der einen und die dadurch bedingte Biomasseentwicklung der Flächen unter Fraßeinwirkung auf der anderen Seite - den Beitrag der dortigen Rothirschvorkommen zur Pflege von ökologisch wertvollen Offenlandbiotopen (MEIßNER 2014). Das übergeordnete Ziel ist das Ableiten konkreter Handlungsempfehlungen für das Rotwildmanagement speziell auf Flächen, die keine oder nur unzureichende Pflegeeingriffe erlauben, aber benötigen, wie große oder fragmentierte Naturschutzflächen oder militärisch genutzte Liegenschaften (MEIßNER et al. 2012).