Logbuch zur Recherche

Lektürenotiz vom 15.02.2024 (Witthaus)

Nach der Lektüre des Romans ‚Leopardo al Sol‘ von Laura Restrepo hat sich auch der später erschienene längere Erzähltext derselben Autorin als projektrelevant herausgestellt: ‚Delirio‘ erschien erstmals 2004 bei Alfaguara und ist seit 2009 ins Deutsche übersetzt (‚Das Land der Geister‘). Polyperspektivisch wird hier die Anamnese der geisteskranken Protagonistin Agustina in Angriff genommen, wobei ihr familiärer Hintergrund aufgerollt wird, der seine Verflechtung mit dem organisierten Verbrechen Kolumbiens zu Beginn der 1990er Jahre zu erkennen gibt. Dem ist durchaus eine Kritik an den sozialen Eliten Bogotás zu entnehmen, die demnach ihre gesellschaftliche Stellung durch Kollaboration mit dem organisierten Verbrechen und Pablo Escobar zu konsolidieren versuchten.
Diese narrative Rekonstruktion realisiert sich in vier Handlungssträngen, die jeweils über Agustinas Großvater, ihren Mann Aguilar, sie selbst und ihren ehemaligen Geliebten, mit sprechendem Namen Midas McAllister, fokalisiert werden. Die Autodiegesen werden dabei unvermittelt durch heterodiegetische Einschübe unterbrochen, was die Lektüre auch unter ästhetischen Gesichtspunkten reizvoll macht.
Thematisch relevant ist die Figur Midas McAllister – ein Geldwäscher Pablo Escobars. Er bereichert nicht nur sich selbst, sondern auch willige Investoren seines Umfeldes, die bei den Transaktionen behilflich sind. Dabei wird deutlich, in welcher Weise über die Drogengelder zunächst außenstehende Personen, die vom Kuchen auch etwas abhaben wollen, in ein Geflecht von Verbindungen und Abhängigkeiten gezogen werden. Die hieraus resultierende Machtstellung des ‚Drogenkönigs‘ wird allerdings auch konterkariert durch verschiedene Brechungen seines Mythos. Auch werden die Grenzen seiner Macht (gescheiterte politische Karriere, das nahende Ende seiner Terrorherrschaft) angedeutet.

Recherchenotiz vom 30.01.2024 (Schäfer)

Zum neuen Jahr darf unser Projektteam spannende Funde aus dem Bereich der Büroliteratur verzeichnen; zwar war Uruguays reiche Tradition der cuentos de oficina bereits bekannt gewesen, die Ausmaße werden aber nun noch offenbarer:
Mithilfe des Katalogs der uruguayischen Biblioteca del Poder Legislativo konnten wir über die Rubrik „cuentos uruguayos“ zahlreiche weitere Büroerzählungen verschiedenster Autor:innen aufspüren. Darunter beispielsweise gleich mehrere Erzählungen, die den Titel „El jefe“ tragen, also deutlichen Anschluss an unser Forschungsvorhaben vermuten lassen. Die Einschlägigkeit der jeweiligen Texte wird nach der – zugegebenermaßen sehr umständlichen und teils auch noch ausstehenden – Beschaffung noch final zu beurteilen sein. Mit Alicia Escardó Véghs „El poder invisible“ aus dem Jahr 2011 liegt uns zudem ein weiterer Text weiblicher Autorschaft vor, was uns besonders freut. Der erste ‚Geschichtenzyklus‘ in diesem Band klingt vielversprechend: „El trabajo es salud“.

Lektürenotiz vom 23.10.2023 (Schäfer)

Mit Carlos R. Serras „La oficina del futuro y otros cuentos” aus dem Jahr 2016 liegt uns seit Kurzem ein – im büroliterarischen Sinne – recht rezenter Text vor. Die Sammlung des uruguayischen Autors besteht aus 14 Erzählungen, die sich größtenteils um den Schauplatz Büro herum entfalten.
Dabei sticht besonders – gerade auch vor dem Hintergrund der voranschreitenden Digitalisierung – die Erzählung „La oficina del futuro. Siendo virtual ahorramos tiempo“ heraus, die tragikomisch die Hürden einer virtuellen Bürokratie verarbeitet: Der Rentner Marcos muss sich zur Erneuerung seines Ausweisdokumentes durch ein Labyrinth aus Telefonhotlines, WhatsApp-Kundenservices sowie einer staatlichen Skype-Version (Syskay) navigieren, scheitert hieran aber kläglich. Entsprechend wird sein Kampf gegen die „oficina del futuro“ demjenigen Don Quijotes gegen die Windmühlen gleichgesetzt – unser Protagonist und das neue Zeitalter sind nicht kompatibel.
Ebenfalls bemerkenswert ist „El contribuyente“, dessen Setting an Kafkas posthum erschienenes „Das Schloss“ (1926) erinnert. Mit dem Ziel, Schulden zu begleichen, geht ein Angestellter im gigantischen Verwaltungsapparat des Palacio Municipal verloren. Um nicht für wenige Stunden in seine Wohnung fahren zu müssen, wartet er vor Ort, um früh am nächsten Morgen die zuständige Sachbearbeitung aufzusuchen, – und nistet sich langfristig ins Gebäude ein.
Mit „La secretaria“ liefert Serra zudem nicht nur eine Büroerzählung, die – was bisher neben Pedro Mairals „El año del desierto“ und Josefina Marpons᾽ „44 horas semanales“ die absolute Ausnahme darstellt – die Handlung aus der Perspektive einer weiblichen Angestellten schildert. Deren Gedanken verraten dabei, dass es eigentlich sie ist, die im Büro die Fäden in der Hand hält: „Seis gerentes, algunos incompetentes, otros ladrones, habían caído por la secreta obra de ella“ (S. 87f.). Entsprechend liegt hier eine Umkehrung des in der bisherigen Literatur gesichteten bürointernen Herrschaftsgefüges (Chef/Manager > Sekretärin) und damit ein für das Projekt überaus vielversprechender Bürotext vor.

Lektürenotiz vom 01.09.2023 (Witthaus)

‚Paradais‘ (2021) von Fernanda Melchor (von mir in deutscher Übersetzung gelesen) ist ein schonungsloser Text über Machismo und Verbrechen, über strukturelle und physische Gewalt. Mit einer ausgeklügelten Technik der internen Fokalisierung zeigt die Verfasserin auf äußerst beklemmende Weise den schmalen Grat zwischen sozialen Ausgrenzungen einerseits und Verbrechens- und Gewaltbereitschaft andererseits. In einer Gated Community bildet sich eine schräge Allianz zwischen Franco, der dort wohnt und aufgrund seines Übergewichtes ein Außenseiter ist, und Polo, der dort arbeitet und ausgebeutet wird. Die Geschichte endet in einem kaum fassbaren Blutbad. Von Interesse für unser Projekt ist die Erzählung vor allem im Mittelteil. Polos Cousin Milton gerät in eine Jugendgang, die von einer Frau, Licenciada genannt, angeführt wird. Diese taucht nur auf einigen Seiten auf. Aber es lohnt sich, dieser Skizze von Jugendkriminalität und den hier greifenden Machtmechanismen nachzugehen.

Lektürenotiz vom 11.07.2023 (Schäfer)

Mittlerweile haben wir einen zweiten Roman mit weiblicher Autorschaft als projektrelevant absichern können: ‚Los perros no ladraron‘ (1966) der costa-ricanischen Autorin Carmen Naranjo.
Dieser Text hebt sich insbesondere deshalb von den bisherigen ab, weil er gänzlich als Dialog verfasst ist, also keine Diegese im engeren Sinne vorliegt. Dies bedeutet – in Kombination damit, dass die Dialogbeiträge nicht mit Sprechernamen versehen sind –, dass die Leserschaft überaus aufmerksam an den Text herangehen muss, um auf eigene Faust die Leerstellen zu füllen. So erfährt man beispielsweise nur sehr fragmentarisch, in welchem Setting sich die Dialoge zutragen, beispielsweise durch die Erwähnung von einem „jefe“, einem „director“ und diversen „empleados públicos“. Neben diesen Schlagworten klingen auch diverse Themen an, die wir in bereits gesichteter Büroliteratur haben beobachten können: z.B. Unterwürfigkeit und Speichelleckerei gegenüber dem Vorgesetzten (vgl. Saccomannos ‚El oficinista‘ (2010)), die Trägheit des Büroapparates (vgl. Benedettis ‚El presupuesto‘ (1959) & Denevis ‚Los expedientes‘ (1957)) sowie Gleichstellungsfragen, die weibliche Angestellte bewegen (vgl. Marpons᾽ ‚44 horas semanales‘). Um die Eignung des Romans im Hinblick auf die kleine Souveränität final absichern zu können, wird es einer überaus gründlichen erneuten Lektüre – und sicher auch einer gewissen Interpretationsfreiheit – bedürfen.

Lektürenotiz vom 05.07.2023 (Schäfer)

Mit ‚44 horas semanales‘ (1936) liefert die argentinische Schriftstellerin Josefina Marpons einen für uns besonders spannenden Roman – denn bislang ist er der einzige von einer Frau verfasste Text, den wir für den Bereich der Büroliteratur erschließen konnten. Besonders vor dem Hintergrund, dass unser Projekt auch zum Ziel hat, mit Geschlechterfragen verbundene Machtdynamiken in den Blick zu nehmen, wären weitere Primärtexte aus nicht-männlicher Perspektive durchaus von Vorteil. Bisherige Recherchen, z.B. auch gezielt nach (Büro-)Werken ausgewählter Autorinnen wie Alfonsina Storni oder Herminia Brumana, verliefen bis dato ins Leere.
In Bezug auf die behandelten Themen passt sich der Roman galant in die Reihe der deutschsprachigen Sekretärinnen-Romane ein, die vor allen Dingen Irmgard Keun und Vicki Baum, als männlicher Vertreter aber beispielsweise auch Rudolf Braune in der Zeit der Neuen Sachlichkeit, unmittelbar vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, schufen. Ebenso wie in jener Tradition geht es auch in ‚44 horas semanales‘ um das Leben junger Frauen, die ganz im Sinne der Krux der ‚Neuen Frau‘ zwischen privater und öffentlicher Sphäre, also: Haushalt/Familie/Mutterschaft und Beruf, verweilen, sich aufgrund gesellschaftlicher Erwartungen sowie prekärer Existenz im Erwerbsleben jedoch kaum so emanzipieren können, wie sie es sich wünschen würden.
Marpons᾽ Roman scheint geradezu prädestiniert für unser Forschungsinteresse: Nicht nur ermöglicht er uns einen Blick frei vom ‚male gaze‘ und prangert geschlechterbezogene Machtdynamiken sowie die Sexualisierung weiblicher Angestellter an, gleichzeitig hat er direkt mehrere potenzielle Souveränfiguren zu bieten, die im Fortgang des Projekts noch näher zu betrachten sein werden. Darunter befindet sich neben drei männlichen Figuren (Señor Oviedo, Señor Perelli, Rómulo), die jeweils auf unterschiedlicher Führungsebene im beschriebenen Büro angesiedelt sind, auch eine weibliche Figur (María Delia), die als Liebhaberin eines der Männer in eine ‚Machtkomplizenschaft‘ gerät und diese in vollen Zügen ausnutzt.

Lektürenotiz vom 30.06.2023 (Witthaus)

Der Roman ‚Leopardo al sol‘ (1993) der kolumbianischen Schriftstellerin Laura Restrepo handelt vom Konflikt zweier Familien aus La Guajira/Kolumbien, die verwandtschaftlich miteinander in Verbindung stehen. Die Barragáns und Montsalves sind beide im Drogengeschäft und beherrschen ganze Stadtteile. Der Bandenkrieg ist äußerst brutal und wird bis zum bitteren Ende geführt. Für uns ist der Text äußerst relevant, nicht zuletzt deswegen, weil hier die Legendenbildung der Bosse thematisiert wird – ein Prozess, der letztlich eine Aura der Mächtigen erschafft, Teil des Geschäfts ist, aber sie auch in ein kollektives, wenn auch eher lokales Gedächtnis eingehen lässt. Tatsächlich lassen sich sowohl Nando Barragán auf der einen als auch sein Rivale Mani Montsalve auf der anderen Seite jeweils als kleine Souveräne charakterisieren, die jenseits staatlicher Kontrollen einen erheblichen Handlungsspielraum entfalten, den sie sich gegenseitig streitig machen. Stilistisch erinnert Restrepos Erzählprosa an die Groteske eines García Márquez, konkret auch durch das dialogische Spiel mit einer Kollektivstimme, die in sich noch einmal in Einzelstimmen aufgeteilt ist und das Gerede der Menschen darstellt – dies verweist ein Stück weit auf den Herbst des Patriarchen zurück.

Lektürenotiz vom 29.06.2023 (Witthaus)

‚El ruido de las cosas al caer‘ (2011) von Juan Gabriel Vásquez war ein Roman, den wir nicht vorrangig auf dem Zettel hatten. Erzählt wird hier die Bekanntschaft des Ich-Erzählers, Antonio, mit einem Mann, Ricardo Laverde, den er beim Billard kennenlernt. Wenig später werden beide bei einem Moped-Attentat in den Straßen Bogotás niedergeschossen, wobei Laverde das eigentliche Ziel war. Dieser stirbt, Antonio überlebt, versucht allerdings nach seiner Rekonvaleszenz – auch im Sinne einer Verarbeitung des Traumas – die Hintergründe aufzuklären, weshalb er mit Laverdes Tochter in Kontakt kommt. Ein beeindruckender Text, der recht traditionell erzählt wird und – wie ich finde – brillant geschrieben ist. Eigentlich handelt es sich meinem Verständnis nach nicht direkt um Narcoliteratura, dennoch finden sich dort sehr aufschlussreiche Textstellen, auf die man kaum verzichten mag, tritt doch hier der kleine Souverän Pablo Escobar zwar nicht direkt als Figur, aber als Bestandteil und Unruheherd eines generationalen Gedächtnisses in Erscheinung – vor allem durch seine Hinterlassenschaften, wie die Hacienda Nápoles oder die Nilpferde (vgl. den Eintrag weiter unten zu Juan Pablo Villalobos), die aus seinem Zoo entkommen sind, sich vermehrt haben und die Gegend unsicher machen – so verrät der gelungene Romanbeginn, der mich nicht nur aus Gründen der Projektarbeit zum Weiterlesen animiert hat. Wir sollten bei künftiger Literatursichtung auch links und rechts des Weges unserer primären Liste Ausschau halten.

Recherchenotiz vom 28.06.2023: KI auf dem Prüfstand (Schäfer, Melchor Audirac)

Nach der allgemeinen Büroliteratur-Recherche mithilfe von Chat GPT-3.5 überlegten wir, inwieweit die Erschließung der Inhalte und Figureninventare unserer im Korpus enthaltenen Texte möglich sein könnte. Auch hier verwendeten wir wieder die oben erwähnte Version und forderten die KI auf, uns eine knappe Analyse zu den Figuren in Guillermo Saccomannos ‚El oficinista‘ zu liefern. Obwohl es sich um einen eher rezenten Roman handelt – er wurde 2010 publiziert –, erhielten wir kein zufriedenstellendes Ergebnis. Nicht nur fand Chat GPT-3.5 den Roman nicht; nach einem Hinweis unsererseits auf das Publikationsjahr erschienen plötzlich Informationen zum Protagonisten:
„Roque: El protagonista de la historia, es retratado como un hombre solitario y desilusionado con su vida. A medida que se adentra en el sistema burocrático, se enfrenta a situaciones opresivas que lo llevan a cuestionar su existencia y a luchar contra la desesperanza. Su personaje puede simbolizar la pérdida de identidad y la alienación en un entorno deshumanizante.“
Das mag zwar auf den ersten Blick vielversprechend wirken – wer den Roman jedoch kennt oder auch nur eine Rezension darüber gelesen hat, wird stutzig. Denn Saccomannos Protagonist bleibt namenlos, er ist einfach nur „el oficinista“.
Nach einer weiteren Rückfrage unsererseits, aus welchem Büroroman der Protagonist Roque sei, erkannte die KI den Fehler und bat um Entschuldigung. An diesem Beispiel zeigt sich bereits sehr deutlich: Auch wenn KI, oder hier im Speziellen Chat GBT-3.5, ein hilfreiches Rechercheinstrument darstellen kann, ist ein kritischer, informierter Umgang damit unerlässlich.

Recherchenotiz vom 27.06.2023: KI auf dem Prüfstand (Melchor Audirac)

Um neue Primärtexte aus dem Bereich der Büroliteratur zu finden, wurden neue Plattformen mit künstlicher Intelligenz, nämlich Chat GPT-3.5, eingesetzt. Mit dem Wissen, dass für einen reflektierten Einsatz der betreffenden KI-Modelle Vorkenntnisse zum Thema unabdingbar sind, wurden gezielte Anfragen gestellt, um Romane zu finden, die diesem Genre angehören. Die Antwort der KI lieferte interessante Optionen zu einigen Autoren, die bereits im Projektkorpus enthalten waren, und weitere Texte, die thematisch nicht einschlägig sind. Interessanterweise erwähnt sie auch den argentinischen Autor Eduardo A. Sacheri. Eine kurze Recherche ergab, dass er im Jahr 2005 einen Roman mit dem Titel ‚La pregunta de sus ojos‘ publizierte, der 2009 mit dem Titel ‚El secreto de sus ojos‘ verfilmt wurde. Dieser Roman war nicht im Korpus des Projekts enthalten und soll nun in einem nächsten Schritt auf die Eignung für unser Projekt überprüft werden.
Derzeit erweist sich KI für die Recherche als nützlich, da sie Titel liefert, die bisher nicht gezielt gesucht wurden – allerdings mit einigen Einschränkungen: Zum Beispiel hat Chat GPT-3.5 den Roman falsch betitelt: ‚El secreto de sus ojos‘ statt ‚La pregunta de sus ojos‘, was wahrscheinlich mit dem Titel des Films zusammenhängt. Außerdem existieren einige der anderen vorgeschlagenen Titel erst gar nicht oder sind zumindest nicht im Bereich der Büroliteratur angesiedelt.

Lektürenotiz vom 07.06.2023 (Schäfer)

Bei den ‚5 cuentos de oficina‘ (1985) des Argentiniers Jorge A. Vilches handelt es sich unfraglich um Büroliteratur im engeren Sinne: Alle fünf Erzählungen haben das Büro zumindest teilweise als Schauplatz. Im Gegensatz zu Marianis Cuentos de la oficina (1925) haben wir es hier allerdings nicht mit einem Konvolut an Erzählungen zu tun, das aufgrund seiner inhaltlichen Verschränkung zu einem größeren Gesamtwerk wird, sondern mit klar voneinander abgrenzbaren cuentos, die sich jeweils eines unterschiedlichen Figureninventars bedienen. So liefert Vilches gleich mehrere potentielle Souveränfiguren: Dr. José Manuel Villegas in „Zafaron a tiempo“ (S. 9–19), Domínguez in „Caricatura del sueño que sufre un oficinista“ (S. 39–49) und Tom Reyes in „Llanto en el Proyecto Patagonia“ (S. 67–86). Entsprechend sollen auch nur diese drei cuentos weiter berücksichtigt werden.

Recherchenotiz vom 15.05.2023 (Witthaus)

Eine weitere Sekundärquelle mit relativ ausführlichen Inhaltsangaben zur kolumbianischen Narco-Literatur stellt die Monographie von Oscar Osorio (El narcotráfico en la novela colombiana, Cali 2014). Hier haben wir gute Hinweise für einige Texte unseres Korpus gefunden.

Lektürenotiz vom 08.05.2023 (Witthaus)

Die Lektüre von Rosario Tijeras (Edition bei Alfaguara: México 2018) von Jorge Franco war nicht ergiebig. Hier handelt es sich um das Genre der Sicaresca. Ein Erzähler, der sich zwischen Homodiegese und Autodiegese bewegt, berichtet von seiner engen Freundin Rosario, die ihrerseits eine Liebesbeziehung mit seinem Freund Emilio führt. Es handelt sich also um eine Dreiecksgeschichte, denn der Erzähler ist lange heimlich selbst in Rosario verliebt. Diese wird über ihren Bruder in einen Strudel von Drogenkriminalität, Prostitution und Gewalt gezogen. Ich finde den kurzen Roman bisweilen etwas klischeebehaftet. Die emotionale Dreiecksgeschichte beinhaltet aber durchaus aufschlussreiche psychologische Dynamiken.

Lektürenotiz vom 17.04.2023 (Schäfer)

Ausgehend von Roberto Marianis Cuentos de la oficina (1925), die als Pionierarbeit im Bereich der Büroliteratur vom Cono Sur gesehen werden können, sollte auch der 1943 erschienene Roman Regreso a Dios auf seine Eignung im Rahmen der „Kleinen Souveränität“ überprüft werden. Zwar lassen die oficina als wiederkehrender Schauplatz sowie das Auftreten eines direkten Vorgesetzten (Señor Peralta, vgl. S. 37, 267f. & 310f., Ediciones Argentina, 1943) eine Anschlussfähigkeit im Hinblick auf die zu untersuchenden Machtdynamiken im Büro vermuten; allerdings zeigt sich recht früh, dass es in den Büroszenen weniger um Herrschaftsverhältnisse zwischen Vorgesetzten und Untergebenen geht, sondern vielmehr der kollegiale Austausch über private Themen im Vordergrund steht. Ähnlich wie Mario Benedettis Erzählung El presupuesto (in: Montevideanos, Uruguay, 1959) zeigt sich auch, wie Machtvakuen im Großraumbüro in Smalltalk und passive Arbeitsverweigerung münden können. In Ermangelung einer prägnanten Souveränfigur wird Regreso a Dios zunächst als für das Projekt nicht einschlägig eingestuft – auch wenn sich der Roman als zumindest peripherer Vertreter der bonaerensischen Büroliteratur behauptet.

Lektürenotiz vom 17.03.2023 (Witthaus)

‚Candide‘ meets Mexiko. Der Roman Fiesta en la madriguera (2010) von Juan Pablo Villalobos wird aus Sicht eines kleinen Jungen erzählt, dessen Vater das Oberhaupt einer kriminellen Vereinigung ist. Aus dieser Perspektive erscheinen alle Grausamkeiten durch eine Brille der Normalität, die im kindlichen Bewusstsein das, worum es geht, als so hingenommen vermittelt, die aber auch durch den Kontrast von Unschuld des Erzähldiskurses einerseits und der Ungeheuerlichkeit des Darstellten andererseits eine groteske Note erhält. Der Effekt ist Sozialsatire, im Zuge derer Brutalität, Korruption und die Entmachtung politischer Souveränität sowohl direkt als auch metaphorisch offengelegt werden. Der Roman passt in dieser Hinsicht ausgesprochen gut zu unserer Fragestellung.

Vorbild für Villalobos dürfte Voltaires Candide (1759) sein: maßgeblich ist hier wie dort die Perspektive eines Ahnungslosen und ein in der Betrachtung der Vorkommnisse spürbares Nichtverstehen. Die Ich-Narration führt dabei eher zum pikaresken Erzählen zurück – im Candide wird ja heterodiegetisch vorgegangen. Ansonsten bildet wie gesagt Voltaires Text das Modell: Weltanschauungsdiskurse, Pessimismus, das Reisemotiv und ein Hauslehrer, der das Zerrbild der Pangloss-Figur darstellt.

Gelesen habe ich aus Zeitgründen primär die deutsche Übersetzung, die 2011 im Berenberg-Verlag (Berlin) erschienen ist. Der Text ist flüssig und flott, wirft aber nach einigen Stichproben Fragen auf, bspw. ist patético z.B. nicht mit „pathetisch“ (S. 7 und in der Folge) zu übersetzen, und der gobernador oder gober ist kein „Regierende[r]“ (S. 18), sondern vermutlich eher der Gouverneur einer der mexikanischen Provinzen, welche unbenannt bleibt.

Recherchenotiz vom 15.03.2023 (Witthaus)

Die Seite „archive.org“ ist augenblicklich eine regelrechte Fundgruppe. In den ersten beiden Suchoptionen (Inhalt, Metadaten) habe ich Begriffe zum Themenkorpus der Bürogeschichten eingeben: "oficina", "secretaria", "literatura", "novela", "cuento", in verschiedenen Kombinationen. Dabei sind mir folgende Erzähltexte ins Netz gegangen: Mariana Enríquez (aus Argentinien), Chicos que vuelven (2011), Maximiliano Álvarez (aus Uruguay), Contar la plata (2017) und Eliécer Cárdenas Espinoza (aus Ecuador), Un fantasma en la oficina: novela juvenil (2015). Entdeckerinnenfreude - so kann es weitergehen!

Recherchenotiz vom 03.03.2023 (Witthaus)

Die Seite „archive.org“ stellt ein breites Korpus an Texten zur Verfügung, die mit einer übergreifenden Suchmaschine zu identifizieren sind, die aber auch intern mit einer weiteren Suchmaschine durchsucht werden können. Hier ergeben sich sehr gute Möglichkeiten der Literaturrecherche. Die Eingabe des Wortes „capo“ für ‚mexikanischer Drogenboss‘ ergab zahlreiche Treffer. Auf diesem Weg bin auf einen weiteren für uns relevanten Roman gestoßen: Alejandro Almazán, El más buscado (2012). Almazán ist ein mexikanischer Journalist und Schriftsteller. In diesem Text erzählt der fiktionale Boss Chalo Gaitán, der im Gefängnis sitzt, einem Corrido-Sänger sein Leben. Hier wird sicherlich sehr viel zu entdecken sein.

Lektürenotiz vom 14.02.2023 (Witthaus)

Der uns schon bekannte Roman Balas de plata (2008) des mexikanischen Schriftstellers Élmer Mendoza war ertragreich hinsichtlich unserer Fragestellung. Daher bot und bietet sich eine Weiterverfolgung der Fortsetzungsromane an, in denen die Geschichte des Polizisten Edgar Mendieta, genannt „El Zurdo“, weitergeht. Der unmittelbar darauf folgende Roman trägt den Titel La prueba del ácido (2010) und ist seit 2012 in deutscher Übersetzung leicht zu beschaffen: Das pazifische Kartell. Ich habe aus Gründen der Zeitersparnis die deutsche Version gelesen.

Die Bücher folgen der Untergattung des ‚Roman noir‘ (novela negra) und zeigen genretypisch durch die manchmal zweifelhafte moralische Perspektive des Protagonisten die Verflechtungen von staatlichen Akteur:innen und dem organisierten Verbrechen. In diesem Roman soll der Mord an einer Nachclubtänzerin aufgeklärt werden. Den Hintergrund bildet der sogenannte ‚Krieg gegen die Drogen‘, der mit der Amtszeit von Felipe Calderón in Verbindung zu bringen ist, der jedoch im Roman – soweit ich das rekapituliere – namentlich nicht erwähnt wird.

Wie schon in Balas de plata wird der Folgeroman nach dem Richter-und-sein-Henker-Modell (Dürrenmatt) aufgelöst und arbeitet durch diese Handlungsführung dem Thema untergrabener staatlicher Souveränität zu. Besonders das Kapitel 31, in dem der Drogenboss Valdés zu Grabe getragen wird, ist von Relevanz für unsere Fragestellung, weil der Verstorbene hier eine pompöse Totenfeier bekommt, die einem Staatsbegräbnis gleicht.

Lektürenotiz vom 06.02.2023 (Witthaus)

Der Roman von Mario González Suárez, A wevo, Padrino (2008, liegt mir in der Edition Era 2015 vor) ist sprachlich sehr anspruchsvoll, weil er beinahe durchgehend in mexikanischer Umgangssprache, ja im Slang des Milieus verfasst ist. Er ist in drei Teile untergliedert. Erster und dritter Teil vermitteln autodiegetisch die Geschichte eines Taxifahrers, der wider Willens in eine Drogenbande gerät und im Zuge dieser Gefolgschaft seine Familie verlässt. Unterbrochen wird diese Geschichte von einem kurzen Kapitel, das episodisch heterodiegetisch die Ehefrau in den Blick nimmt. Sprache, Darstellung und Erzählperspektive erinnern stark an pikareske Erzählweisen, was die Anwendung des in der Forschung nicht ganz unumstrittenen Begriff der ‚Sicaresca‘ berechtigt erscheinen lässt. Da die Rede an seinen Kirchenpaten (padrino) gerichtet ist, ist naheliegend diese als eine Art Beichte zu verstehen.

Widererwarten ist der Text für unsere Fragestellung nicht besonders einschlägig. Die Figur Jaime Cuéllar, der Boss, ist nicht uninteressant, bleibt aber eher im Hintergrund. Allenfalls ist seine vorübergehende Unsichtbarkeit und Unzugänglichkeit aufschlussreich. Eine Inszenierung von kleiner Souveränität findet man kaum, ein paar Hinweise zur Kleidung und zu Accessoires zu Beginn, allenfalls. Aus der Handlung wird deutlich, wie prekär seine Existenz zwischen verschiedenen Träger:innen von Handlungsmacht im Geflecht des Drogenhandels und -schmuggels ist. Wir waren auf den Titel aufmerksam geworden, weil wir hinter dem „padrino“ einen Paten vermutet hatten, tatsächlich handelt es sich aber, wie gesagt, um einen Geistlichen. So können Titel tatsächlich auf eine Fährte locken, die nicht ganz hält, was sie verspricht.

Recherchenotiz vom 02.02.2023 (Schäfer, Melchor Audirac)

Im Rahmen der Recherche nach weiteren Primärtexten aus dem Bereich der Büroliteratur hat sich das System der Stichwortsuche als besonders ertragreich herausgestellt. Texte von bereits erschlossenen ‚Büro-Autor:innen‘, die uns digital zugänglich waren (z.B. über Google Books oder Scribd), deren Eignung wir aber noch nicht festgestellt hatten, wurden anhand der folgenden Stichworte überprüft:

oficina, oficinista, director, jefe, jefa, trabaj (= alle Wortformen von trabajar, trabajador/a, trabajo), empresa, despacho, secretaria, escritorio


Während es dabei erst einmal um die Erschließung von Büroliteratur an sich ging, wird dieses Verfahren nun gezielt auf die Suche nach Souveränfiguren im Bereich der Narco-Literatur angewandt. Dies soll dazu dienen, bereits erschlossene Primärtexte im Hinblick auf ihre Relevanz für das vorliegende Projekt beurteilen zu können. Diejenigen Texte, die sich als geeignet erweisen, sollen in der Folge per Fernleihe bestellt oder käuflich aus Projektmitteln erworben werden; die übrigen finden keine weitere Berücksichtigung.

soberanía, soberano, soberana, jefe, jefa, patrón, patrona, capo, padrino, riqueza, dinero, joyas, cadenas de oro, mentira, traición, tirano, tirana, cadena de mando, encargo, orden, misión, político, política, ministro, senador, diputado, Estado, federalismo, ejército