»Bones and All« von Luca Guadagnino: Zwischen Coming-of-Age, Roadmovie und abscheulichem Horror
(Ohne Spoiler!)
Die siebzehnjährige Maren Yearly hat ein Verlangen, das sie vom Rest ihrer Mitschüler:innen unterscheidet – das sie zwingt, sich von der Öffentlichkeit fernzuhalten. Ein Verlangen, das selbst ihren Vater nach einem Vorfall, der nicht der erste dieser Art zu sein scheint, in die Flucht treibt. Von dort an ist Maren mit etwas Geld und ihrer Geburtsurkunde auf sich allein gestellt. Mit dem Ziel ihre leibliche Mutter zu finden, begibt sich die Protagonistin auf einen Roadtrip, der ihr zeigen wird, dass es noch weitere Menschen gibt, die ihre Begierde teilen.
Dass ihre Andersartigkeit, zu ihrer Überraschung, kein Einzelfall ist, lernt Maren (Taylor Russell) dabei zuallererst durch einen Fremden. In aller Ungewöhnlichkeit und Brutalität zeigt ihr Sully (Mark Rylance), was es bedeutet, wie sie zu sein, wie man mit dem Verlangen am Rande der Gesellschaft existiert, was die Regeln sind. Und obwohl Maren den älteren Herrn schnell wieder verlässt, taucht er, wie besessen, immer wieder bei ihr auf. Mark Rylance liefert dabei eine unfassbare Performance, wie ein Autounfall, bei dem man nicht hin- und nicht wegschauen kann. Mit jedem seiner Auftritte wird seine Figur unheimlicher, widerwärtiger, wobei seine bloße Erscheinung Unbehagen auslöst.
Nach kurzer Zeit trifft Maren auf den jungen, charismatischen Lee (Timothée Chalamet), der sofort merkt, dass sie dasselbe Schicksal teilen. Von dort an wird man als Zuschauer:in Augenzeug:in einer Liebe, die aus der geteilten Andersartigkeit, dem selben Verlangen der Protagonist:innen entsteht. So versinken Maren und Lee vorerst in ihrem Bedürfnis und gehen ihm gänzlich nach. Zwischen dieser Hingabe ist es vor allem Maren, die immer wieder den Lebensstil der beiden hinterfragt und sich von diesem abwenden, ihn ablegen möchte, wodurch die Beziehung der beiden wiederholt auf die Probe gestellt wird.
Taylor Russell, welcher für ihre Darstellung der „Marcello-Mastroianni-Preis“ als beste Jungdarstellerin verliehen wurde, und Chalamet begeistern den gesamten Film über mit ihrer schauspielerischen Leistung. Vor allem die Entwicklung, die Maren im Film durchlebt – von einer verwirrten Außenseiterin zu einer selbstbewussten jungen Frau, die erkennt, dass sie nicht allein ist – stellt Russell authentisch dar. Auch Chalamet überzeugt als Lee, von dem als Partner, erfahrener Leidensgenosse und ebenfalls Außenseiter, besonders mit seiner beinahe mageren Erscheinung, dennoch ganz offensichtlich eine Gefahr ausgeht. Zusammen verkörpern die beiden Schauspieler:innen die heranwachsende Liebe zwischen Maren und Lee sowie den Zwiespalt, in dem sich ihre Charaktere befinden, glaubwürdig.
„Bones and All“ von Regisseur Luca Guadagnino („Call Me by Your Name“), welcher dafür mit dem „Silver Lion“ als bester Regisseur ausgezeichnet wurde, hat eine Spieldauer von 130 Minuten und läuft seit dem 24.11.2022 in den deutschen Kinos. Der Film, welcher auf dem gleichnamigen Roman der US-amerikanischen Schriftstellerin Camille Deangelis basiert, ist speziell, brutal und dennoch fesselnd. Das Szenenbild, im Arthouse-Stil, vintage und leicht körnig, passend zu einem Roadtrip in den USA der 1980er Jahre, zieht einen in seinen Bann. Dennoch gibt es für den/die Zuschauer:in in Bezug auf die Kameraführung keine Gnade: Blutige und teilweise unerträgliche Szenen werden erbarmungslos gezeigt, nichts verschönert dargestellt oder zensiert. Dies allein führt in den ersten fünf Minuten zu einem Schockmoment, da der Trailer das eigentliche Sujet des Films nicht preisgibt.
Auch wenn „Bones and All“ seine Längen und handlungsschwächeren Momente sowie teilweise unaushaltbar brutale Augenblicke aufweist, gelingt es dem Film dennoch, etwas völlig Neues zu erschaffen. Neben all den traditionellen Liebesgeschichten und Horrorfilmen in Spukhäusern ist er damit eine gelungene Abwechslung, die mit Besetzung, Erzählung und Darstellung überzeugen kann und die beiden Genres ungewöhnlich miteinander verbindet.