Phänomenologische Vignettenforschung im Tanz

Phänomenologische Vignettenforschung als innovatives Verfahren in der tanz- und musikpädagogischen Forschung

In dem Projekt Watchin‘ Dance wird mit der phänomenologischen Vignettenforschung eine neue und innovative Methode für die tanz-, sport- und musikpädagogische Forschung erprobt. Wir folgen dabei dem Ansatz der Innsbrucker Vignettenforschung (Schratz, Schwarz & Westfall-Greiter 2012, Agostini et al. 2023).

Der Ansatz der phänomenologischen Vignettenforschung ist noch relativ neu, wird bislang vor allem in der Schul- und Unterrichtsforschung genutzt und ist als Verfahren in der ästhetisch-kulturellen Bildung noch nicht etabliert. Als Erhebungsinstrument in der qualitativen Forschung geben Vignetten Momente und Situationen aus Schule, Unterricht, Alltag, sozialen Feldern usw. wieder und kondensieren sie in prägnanten szenischen Darstellungen bzw. Erzählungen.

Die Forscher:innen nehmen dafür miterfahrend an den Situationen teil und erfassen interessant erscheinende Momente, Gegebenheiten, Vorfälle. Vignetten sind „kurze prägnante Erzählungen, die (schulische) Erfahrungsmomente fassen. [...] Sie gleichen Schnappschüssen, die dynamisches Handeln von Personen in konkreten Situationen herausnehmen und im Festhalten fixieren. [...] Gleich einem Photo halten die Vignetten einen Erfahrungsmoment fest und fixieren ihn sprachlich und in ihrer bestechenden Wirkung.“ (Schratz, Schwarz & Westfall-Greiter 2012, S. 34f.)

Watchin‘ Dance

Mit dem Projekt Watchin‘ Dance wollen wir mit der phänomenologischen Vignettenforschung einen Beitrag zur Methodenentwicklung und -diskussion in der tanz-, sport- und musikpädagogischen Forschung leisten. Wir sehen in der Methode eine Chance, dem gewählten Forschungsgegenstand der Tanzrezeption konstruktiv zu begegnen.

In den in dem Projekt verfassten Vignetten werden besondere Momente der Affiziertheit, Betroffenheit oder auch Widerständigkeit bei der Tanzrezeption erfasst. Es sind vor allem körperliche und verbale Reaktionen der Jugendlichen auf die Tanzaufführung sowie Interaktionen zwischen den Schüler:innen von Interesse.

Ziel des Projekts ist es differenzierte Erkenntnisse über Rezeptionserfahrungen von Jugendlichen mit zeitgenössischem Tanz zu erhalten und daraus entsprechende Bildungspotenziale von Tanzrezeption abzuleiten. Dabei stehen folgende Forschungsfragen im Mittelpunkt:

  • Welche Rezeptionsweisen zeigen Jugendliche bei dem Besuch eines zeitgenössischen Tanztheaters?
  • Wodurch werden die Jugendlichen angesprochen bzw. irritiert (z.B. Bewegungsformen, musikalische Aspekte, Inszenierung)?
  • Wie können sie sich auf das (Tanz-)Theaterereignis einlassen?
  • Welche Rolle spielt die Musik?
  • Wie antworten die Jugendlichen auf den Tanz?
  • Was sind das für (ästhetische) Erfahrungen bzw. welche Dimensionen ästhetischer Erfahrungen bei der Tanzrezeption können konkretisiert werden?

Wir kooperieren mit dem Netzwerk „Phänomenologische Vignetten- und Anekdotenforschung“ („VignA“ ) und danken insbesondere Prof. Dr. Evi Agostini für ihre Unterstützung.

Projektbeschreibung

Für das Projekt begleiteten wir in der Spielzeit 2023/2024 zwei Schüler:innengruppen zu Tanzaufführungen am Staatstheater Kassel. Die Schüler:innen waren zwischen 15 und 17 Jahren alt und besuchten verschiedene Schulen in Kassel. Sie haben unterschiedliche praktische wie rezeptive Vorerfahrungen mit (zeitgenössischem) Tanz.

Image: SaroStock@adobestock.com

Den Beginn machten 15 Jugendliche mit dem Stück „Der Nussknacker | The Nutcracker | De Notenkraker“ von den United Cowboys (Niederlande). Die Schüler:innen waren zwischen 16 und 17 Jahre alt und besuchten zu dem Zeitpunkt des Theaterbesuchs die Stufe 11 eines Gymnasiums.

Mit den Jugendlichen der zweiten Gruppe sind wir zu dem Stück „Winterwende | Winter Solstice; Barocke Visionen für das Ende der Zeit“ von Kristel van Issum (Niederlande) und von Anat Oz (Israel) gegangen. Die Schüler:innen waren zwischen 15 und 16 Jahre alt und besuchten zu dem Zeitpunkt des Theaterbesuchs eine zehnte Klasse einer Kasseler Gesamtschule.

Die Jugendlichen wurden bei allen Aufführungen jeweils von drei bis vier Vignettenschreiberinnen begleitet. Die Forscherinnen protokollierten über das gesamte Stück individuelle Wahrnehmungen, Eindrücke und Besonderheiten zu den Jugendlichen, dem Bühnengeschehen und zum Publikum. Vor allem wurden dabei die „miterfahrene Erfahrung bzw. die intersubjektiven Wahrnehmungs- und Erfahrungsmomente, von denen die Vignettenschreibenden im Feld (in der Forschungssituation) affiziert ‚getroffen‘ [worden sind]“ (Agostini et al. 2023, S. 41) festgehalten. Die Erfahrungen wurden im Anschluss an das Stück in Rohvignetten (einem Erstentwurf) eingefangen. In einem folgenden intersubjektiven Austausch wurden die Rohvignetten validiert und zu Vignetten verdichtet.

Zu den entstandenen Vignetten folgen Vignetten-Lektüren, die die zentralen Erfahrungen in den Vignetten herausarbeiten, mit theoretischen Bezügen verknüpfen und daraus zu gewinnende Erkenntnisse, zu Rezeptionserfahrungen von zeitgenössischem Tanz, aufzeigen.

    Literatur

    • Agostini, E., Peterlini, H. K., Donlic, J., Kumpusch, V., Lehner, D., & Sandner, I. (2023). Die Vignette als Übung der Wahrnehmung: Zur Professionalisierung pädagogischen Handelns. Opladen, Berlin: Verlag Barbara Budrich.
    • Agostini, E., Öztürk, N., Prummer, S., Schatz, V., Symeonidis, V. & Thielmann, A. (2023). Vignette: Die Vignette als Reflexionsinstrument. In E. Agostini, H. K. Peterlini, J. Donlic, V. Kumpusch, D. Lehner & I. Sandner(Hrsg.), Die Vignette als Übung der Wahrnehmung: Zur Professionalisierung pädagogischen Handelns (S. 36-44). Leverkusen, Opladen: Barbara Budrich.
    • Schratz, M., Schwarz, J. F. & Westfall-Greiter, T. (2012). Lernen als bildende Erfahrung. Vignetten in der Praxisforschung. Innsbruck: Studienverlag.
    • Staatstheater Kassel (Hrsg.) (2023). Der Nussknacker | The Nutcracker | De Notenkraker. Eine meta-kulturelle_performative_immersive_metaphorische Tanz-Uraufführung von United Cowboys (Niederlande). Progr., Red. S. Meier-Brösicke (Spielzeit 2023/24, Prem. 14. Oktober 2023). Kassel.
    • Staatstheater Kassel (Hrsg.) (2024). Winterwende | Winter Solstice. Barocke Visionen für das Ende der Zeit. Tanz-Uraufführungen von Kristel van Issum (Niederlande) und Anat Oz (Israel). Progr., Red. L.G. Anderstam & Th. Teubl (Spielzeit 2023/24, Prem. 4. Mai 2024). Kassel.