Die Fürstenbibliothek Arolsen als Kultur- und Wissensraum vom 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert und ihre Einflüsse auf Genese, Formung und Identität des Fürstenstaats
Projektverantwortliche: Prof. Dr. Claudia Brinker-von der Heyde, Prof. Dr. Jürgen Wolf (Technische Universität Berlin)
Koordinatorin: Dr. Cristina Fossaluzza
In enger Zusammenarbeit mit Institutionen und Fachleuten des In- und Auslandes nimmt das DFG-Projekt, das im April 2009 begonnen hat und zunächst für drei Jahre bewilligt ist, die Fürstlich Waldecksche Hofbibliothek (FWHB) in Arolsen als einen Kultur- und Wissensraum in den Blick. Das Projekt will die Bibliothek und den sie beherbergenden Wissens- und Kulturraum als Ganzes erschließen, d.h. mit Hilfe digitaler Aufbereitung der überregionalen Forschung im open access-Verfahren zugänglich machen. Ziel ist es dabei unter anderem, die Bedeutung der Fürstenbibliothek für alle Handlungen innerhalb des kleinen Staates, für die Schaffung wechselnder kultureller Identitäten und ihre Vernetztheit mit dem Kultur- und Kunstbetrieb zu erforschen. Es besteht kein Zweifel, dass die Bibliothek mit ihren Beständen Verwaltung, Erziehung, Architektur und Lebensformen des Fürstentums im 17. und 18. Jahrhundert prägend mitgestaltet und sogar aktiv Einfluss nimmt auf Staat und Bildungswesen. Im Zusammenspiel mit den zahlreich erhaltenen Archivalien, dem ebenfalls noch weitgehend erhaltenen Ensemble von Stadt und Schloß sowie vielfältigen Kunstobjekten läßt sich prototypisch ein Raum konturieren, der die politischen und topographischen (Landes)Grenzen bei weitem sprengt und sich nicht nur einschreibt in einen europäischen Kultur- und Wissensraum, sondern umgekehrt, diesen auch en miniature nachbildet, je neu gestaltet und den eigenen Vorstellungen und Bedingungen anpasst, um daraus neue Sammelschwerpunkte in der Bibliothek und damit gleichzeitig im Denken, Handeln und Leben zu setzen. Dieser wechselseitige Kulturtransfer zwischen Bücherwelten von großen zeitlichen und räumlichen Dimensionen und einem kleinen, realen, vermessbaren Ort ist dank einer außergewöhnlich günstigen Quellenlage in Arolsen besonders gut zu erforschen. So ist die fürstliche Bibliothek in weiten Teilen noch vor Ort erhalten bzw. über die minutiös geführten Verkaufs- und Auktionskataloge nahezu komplett rekonstruierbar. Dasselbe gilt für die vollständig im Württembergischen Landesmuseum Stuttgart erhaltene, überaus reiche Antikensammlung Prinz Christians. Ebenfalls nahezu lückenlos erhalten sind die heute im Staatsarchiv Marburg, in der Waldeckischen Domanialverwaltung und in fürstlichem Privatbesitz aufbewahrten Archivalien für den fraglichen Zeitraum. Was die Bibliothek betrifft, erlauben Ausleihlisten, Verzeichnisse von An- und Verkäufen, Randnotizen von Benutzern ebenso wie Konstruktionspläne und deren Realisierung im Stadtbild und durchschossene Exemplare mit fortlaufenden Kommentaren eine ungewöhnlich exakte Nachzeichnung der literatur- und kulturhistorischen, aber auch der ganz praktischen Relevanz der Buchbestände.
Ziele des Projekts sind:
a) die systematische Sichtung und Erfassung der Buchbestände mit Alleinstellungsmerkmalen (wie etwa Widmungen und Nutzungsspuren) und der verschiedenen Archivalien – u.a. alte Bibliothekskataloge, Ausleih- und Bestandslisten sowie Nachlassverzeichnisse;
b) die digitale Aufbereitung ausgewählter Bestände mit Hilfe von Metadaten, die in Zusammenarbeit mit der UB Heidelberg realisiert werden soll. Vorarbeiten erfolgten in Kooperation mit FotoMarburg und resultierten im Aufbau einer Datenbank. Diese ist in den internationalen Bildindex von FotoMarburg integriert und wird als Basis für einen digitalen Katalog dienen;
c) die themenzentrierte Erforschung der Fürstenbibliothek. Dazu gehören insbesondere Fragen nach dem Verhältnis von Faktizität und Empirie in der Frühen Neuzeit, nach der Imitation, Adaption, Transformation und Destruktion von Kulturen und Wissensbeständen sowie Fragestellungen zu den wechselseitigen Beziehungen von Bibliothek und fürstenstaatlicher Lebenswelt, Kultur und Politik.
Im Zusammenspiel von digitaler Bestandserschließung (im open source-Verfahren) und wissenschaftlicher Aufarbeitung des vorliegenden Materials geht das Projekt also weit über eine bloße Bibliotheks- oder regionale Literaturgeschichte hinaus. Vielmehr erweist sich die Fürstenbibliothek Arolsen als ein exemplarischer Ort der facettenreichen Kultur der Frühen Neuzeit und als ein Fallbeispiel für die moderne Kultur- und Wissensforschung. Aus diesem
Doppelaspekt ergibt sich ihr Potential, Modellcharakter für eine zukünftig stärker literatur- und kulturhistorische Aspekte vernetzende Erforschung von Fürstenbibliotheken - auch auf internationaler Ebene - anzunehmen.