Sprache und Identität im Deutschland der Frühen Neuzeit

Projektverantwortlicher: Prof. Dr. Andreas Gardt


Das Projekt untersucht die Rolle der Sprache bei der Konstruktion kollektiver Identität in deutschsprachigen Texten in der Zeit von 1500 bis 1800. Kollektive Identität wird hier verstanden als Selbstbild gesellschaftlicher Gruppen in historisch-kulturellen Formationen, mit dem sich die Angehörigen der Gruppe identifizieren und das sie als wert- und handlungsorientierend wahrnehmen. Es ist konstitutives Merkmal kollektiver Identitäten, dass sie erst durch die mündliche und schriftliche Kommunikation in einer Sprachgemeinschaft zur Bewusstheit gelangen und deshalb sprachlich (mit-)konstituiert sind.
Die sprachliche Identitätsbildung findet auf unterschiedlichen Ebenen statt. Im Deutschland der Territorialstaatlichkeit spielt die Spannung zwischen einer auf den eigenen Territorialstaat und einer auf die übergeordnete Einheit des Reichs bezogenen Identität eine besondere Rolle. Ihre Parallele in der zeitgenössischen Sprachdiskussion ist die Spannung zwischen den unterschiedlichen Arten von Identität, wie sie den Dialekten des Deutschen im Gegensatz zum Deutschen als Gesamtsprache zugesprochen werden. Während Dialekte eher als Ausdruck privat-individueller oder regionaler Identität gelten, kann die Nationalsprache auch dazu dienen, "die Deutschen" über alle territorialen und dialektalen Grenzen hinweg von "den Franzosen", "den Italienern" usw. abzugrenzen.
Sprache wird im Projekt im doppelten Sinne zum Forschungsgegenstand:
Sie ist Symbol kollektiver Identität, etwa indem die Nation oder das Volk über eine Sprache bestimmt werden: Die Deutschen bilden unter anderem deswegen eine Nation bzw. ein Volk, weil sie das Deutsche als ihre Nationalsprache sprechen.
Sie ist Medium der Identitätskonstruktion, indem mittels ihrer lexikalischen und textsemantischen Mittel die Identitätsstiftung explizit und implizit betrieben wird (z.B. in der Rede vom Deutschen als natürlicher/edler/mannhafter Heldensprache, als von Natur aus unschuldiger/reiner, aber [durch Fremdeinflüsse] geschändeter Jungfrau usw.).

Die enge, geradezu symbiotische Beziehung zwischen den politisch/kulturell/ethnisch bestimmten Einheiten Nation/Volk einerseits und der Sprache andererseits bedeutet auch, dass die Gefährdung der jeweils einen Größe zugleich als Gefährdung der jeweils anderen empfunden wird. Die Auffassung, dass Sprachverfall zu Kulturverfall führt, dient der Legitimation puristischer Bestrebungen: Fremdwörter und fremde Kommunikationsformen bedrohen die Identität und Integrität der eigenen Sprach- und Kulturgemeinschaft.
Das Korpus umfasst Texte von Sprachphilosophen, Grammatikern, Rhetoriklehrern, Pädagogen und Didaktikern, Literaten, Publizisten und anderen professionell mit Sprache befassten Personen. Es soll im Rahmen des Projekts um Texte anderer Kommunikationsbereiche und sozialer Gruppen ergänzt werden. Zur Analyse werden Verfahren der lexikalischen Semantik, der Text- und Diskurslinguistik herangezogen.

Stand: 24. September 2008