Transkulturelle oder erzwungene Identität?
Deutschbrasilianer des 19. Jahrhunderts zwischen heimischem Regionalismus, tropischer Fremdheit und nationalstaatlichen Assimilierungskampagnen
Projektverantwortlicher: Prof. Dr. Stefan Greif
Wer im 19. Jahrhundert von Hessen, Sachsen oder Westfalen nach Brasilien auswandert, sieht sich alsbald teils identitätsfeindlichen Bedrohungen, teils nationalstaatlich verordneten Assimilierungskampagnen ausgesetzt. Ohne sich als ‚Deutsche‘ zu verstehen, müssen die Auswanderer schon unmittelbar nach ihrer Ankunft erfahren, dass alles als ‚deutsch‘ diffamiert wird, was deutsche Auswandererschiffe verlässt, also auch Polen, Russen oder Italiener und Serben. Als ‚schlechte Elemente‘ gelten sie, weil ihnen nicht erst nach 1848 nachgesagt wird, neben demokratischem auch antinationalistisches Gedankengut in eine neue ‚Heimat‘ mitzubringen, die soeben dabei ist, sich vom portugiesischen Mutterland loszusagen und eine kulturell eigene Brasilianität auszubilden.
Solche „patriotischen“ und in Brasilien bis 1938 andauernden Maßnahmen, mit denen die Einwanderer gezwungen werden sollen, alles ‚Fremde‘ abzulegen und sich zwangsweise zu assimilieren, machen auch Auswanderer in anderen ehemaligen Kolonien. Was die Deutschen in Brasilien indes von ihren Landsleuten in Nordamerika oder Teilen Asiens unterscheidet, ist die Tatsache, dass sich der staatlich oktroyierte „Clash of Civilization“ in Brasilien insofern anders gestaltet, als die summarisch als ‚Deutsche‘ titulierten Neubürger unter wechselnden Regierungen und ebenso heterogenen Versuchen, die nationalbrasilianische Identität zu definieren, dennoch die Gelegenheit nutzen, sich zunächst als Pommern, Sachsen oder Preußen eigene Kulturräume zu erschließen, in denen sie ihre Vorstellung von ‚hybrider Identität‘ ausleben. Als Deutschbrasilianer, mithin als in Brasilien Geborene mit gemeinsamen ‚Blutsrechten‘, definieren sich diese höchst heterogenen Bevölkerungen dagegen erst nach dem Ersten Weltkrieg.
Bis dahin, so lässt sich an literarischen Gebrauchstexten wie Auswandererbriefen, Reiseberichten, Tagebüchern etc. aufzeigen, versuchen sie eine Vorstellung von Transkulturalität umzusetzen, die einerseits an Herders Maxime geschult ist, „Jenseits der Nationen gibt es auch ein anderes“, und insofern von Anfang an den Willen bestärkt, sich als ‚Regionalist‘ (und eben nicht als Deutscher) in einen historischen Prozess zu integrieren, in dessen Verlauf sich nationale und kulturelle Grenzen verwischen werden. Andererseits hat sich in diesen Traum die von den beiden Weltreisenden Alexander von Humboldt und Adalbert von Chamisso formulierte Hoffnung eingeschrieben, im fruchtbaren Süden Brasiliens eine neue ‚Heimat‘ zu finden, in der sich an der Seite friedliebender Indianer und anderer ‚Kosmopoliten‘ regionale Identität zu einer komplementären, mithin einer für die transkulturelle Geschichte notwendigen Fremdheit ausgestalten lässt.
Ob dieser Traum im Vielvölkerstaat Brasilien mit seinen heterogenen Phasen kultureller Selbstfindung in Erfüllung gegangen oder ob er vom Deutschbrasilianertum und schließlich von der wirtschaftlichen Gegenströmung der Globalisierung abgelöst worden ist, soll im Rahmen des hier vorzustellenden Projekts als Fragestellung ausgeklammert werden. Vielmehr soll gezeigt werden, wie Einwanderer mit einer explizit nicht nationalstaatlichen Identität im Verlauf des 19. Jahrhunderts ein Konzept von transkultureller Identität entwickeln, das sich gezielt von jenen Transkulturalitätsentwürfen unterscheidet, die im kolonialen Nordamerika und später im postkolonialen anglophonen Sprachraum mit dem Ruf nach nationaler Assimilierung in Verbindung gebracht wurden und werden. Damit entwickeln die südbrasilianischen Siedler zweierlei: Als Preußen oder Westfalen definieren sich sich über einen ‚flüssigen‘ Kulturbegriff, der sie auch in der Rolle des Fremden belässt, ihnen innerhalb eines angewiesenen, festumrissenen Kulturraumes aber gleichzeitig Möglichkeiten eröffnet, Identität immer neu zu beschreiben und bei Bedarf (mitunter eben auch im politisch fragwürdigen Sinne) zu transformieren.
Stand: 24. August 2008