Vision - Fiktion

Projektleitung: Prof. Dr. Franziska Sick in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Stéphane Loikine (Université de Toulouse-Le Mirail)
Laufzeit: 01.10.2007-30.09.2010
Drittmittel: beantragt


Mit dem Begriffspaar Vision – Fiktion soll der Frage nachgegangen werden, wie sich zwei Unwirklichkeiten aneinander reiben, und wie – historisch – die eine die andere ersetzt. Vision und Fiktion thematisieren beide eine Welt, die in Wirklichkeit so nicht zu sehen ist. Während aber die Vision diese zweite Welt als essentielle (bei Platon, im Christentum) oder zumindest als vorstellbare (in Morus’ Utopia) Welt behauptet, erscheint sie in der Fiktion als nur erwünschte oder erdachte, als reine Phantasiewelt. Nur die Fiktion bekennt ein, dass sie etwas sachlich nicht Wirkliches benennt, obwohl auch sie in letzter Instanz Anspruch auf Wahrheit, und das heißt: auf Erfüllbarkeit erhebt. Wie wirklichkeitshaltig sind Vision und Fiktion? Das Projekt will herausarbeiten, was über die Zeiten und Gattungen hinweg als Maß des Wirklichen angesetzt wird.
Die zweite Fragerichtung des Projekts ist enger historisch ausgerichtet: Die Neuzeit löst den Begriff der Vision durch den der Fiktion ab. Während noch im Barock Transzendenz ins Irdische hineinragt (man denke an die Lichtführung in den Kirchen), kann oder will der Aufklärer Diderot in seinen kunstkritischen Betrachtungen den Visionsgehalt religiöser Bilder nicht mehr adäquat aufnehmen. Das Visionäre oder die Wesensschau (Platon) wird zur subjektivierten Schau des Genies oder zu etwas Imaginärem. Nur schwach klingt im Begriff des Imaginären noch der Begriff der Vision an: als Schau von etwas Vorgegebenem. Die Moderne wertet das Trugbild (Phantasma) Platons auf zu einem Produkt der Einbildungskraft, die Vision wird – etwa im Künstlerroman des 19. Jahrhunderts (Balzac, Zola) – zum imaginären Werk. In dem Maße, wie Visionen nicht mehr darstellbar sind, wie das Individuum am Imaginären scheitert, muss Bedeutung ins Bild investiert werden. Deshalb erzählt der Künstlerroman die Vita des Malers. Geniale Bedeutung besitzt das Bild nur dank der Erzählung. Zu fragen sein wird – allgemeiner gesprochen –, wie und auf welche Artikulationsräume sich das Undarstellbare der Vision verteilt und wie diese Artikulationsräume sich zu den Staffelungen der Fiktion verhalten.

Stand: 24. August 2008