Forschungsschwerpunkt des Fachgebiets für Praktische Philosophie

 

Im Forschungsschwerpunkt In­terdisziplinärer Materialismus am Fachgebiet Praktische Philosophie des Instituts für Philosophie der Universität Kassel sollen die Grundzüge eines materialistischen Programms erarbeitet werden, das sich an der Kritischen Theorie orientiert, diese jedoch hinsichtlich der historischen Entwicklung und gegenwärtigen Verfasstheit ihrer Gegenstände neu auszurichten versucht. In Kooperation mit Wissenschaftler:innen aus Kassel sowie aus dem In- und Ausland soll ein Disziplinen- und Ländergrenzen überschreitender Forschungszusammenhang entstehen, in dem das „Existenzialurteil“ (Horkheimer) über die gegenwärtige kapitalistische Gesellschaft neu entfaltet werden soll.

 

Dass die Kritische Theorie der inter- oder transdisziplinären Kooperation bedarf, ist seit ihrer Gründungszeit kaum umstritten. Allerdings besteht zwischen dem breiten Einverständnis diesbezüglich und der tatsächlichen Durchführung interdisziplinärer Arbeiten doch eine erstaunliche Diskrepanz. Man findet solche Arbeiten nämlich kaum. Die Interdisziplinarität der Kritischen Theorie beschränkt sich heute oftmals auf eine Ergänzung ihrer begrifflichen Arbeit durch empirische Erkenntnisse. Wenn so jedoch auf einer normativen Ebene bereits feststeht, was richtig und was falsch ist, dann gerät die Beschäftigung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu einem Prozess theoretischer Selbstbestätigung. Statt die Auseinandersetzung mit wirklichen Gegenständen und Erfahrungen zu suchen und in der Konfrontation mit ihnen unter Zuhilfenahme der jeweils adäquaten disziplinären Ansätze diejenigen begrifflichen Bestimmungen zu entwickeln, mit denen sich der heute mehr denn je kritikwürdige globale Kapitalismus kritisieren lässt, verhalten sich Teile der gegenwärtigen Kritische Theorie zu oft wie ein politischer Idealismus, der die gesellschaftliche Wirklichkeit eher als Exempel zum Beleg seiner bereits feststehenden Überzeugungen gebraucht. Der Mangel an Interdisziplinarität entpuppt sich so als ein Materialismusdefizit.

 

Zur Geschichte eines unvollendeten Konzepts

Nun war Interdisziplinarität für die Kritische Theorie nie ein Selbstzweck. Dass Max Horkheimer den Materialismus der Kritischen Theorie in den 1930er Jahren als interdisziplinären verstanden wissen wollte, lag an einer zweifachen Krise: an der der Gesellschaft und an der der Wissenschaften. Verloren die Wissenschaften und mit ihnen die Philosophie durch ihre Einpassung in die gesellschaftliche Arbeitsteilung zunehmend ihre kritische Funktion, so transformierte sich der Kapitalismus in autoritärer Weise. Horkheimers Konzept eines interdisziplinären Materialismus sollte darum die Potentiale von Psychologie, Ökonomie, Sozialwissenschaften und Philosophie nutzen, um das aufklärerische Potential der Wissenschaften in gesellschaftskritischer Absicht zu bündeln, um so eben Erkenntnisse darüber zu erlangen, warum die im Kapitalismus auffindbaren Möglichkeiten zu einer besseren Gesellschaft zunehmend strukturell blockiert wurden und darum ungenutzt blieben.

 

War Horkheimer in den 1930er Jahren noch verhältnismäßig optimistisch bezüglich der Durchführung eines solchen Programms und seines Beitrags zur Aufklärung und zum Fortschritt der Gesellschaft, so dokumentiert die Dialektik der Aufklärung das Schwinden dieses Optimismus und versucht stattdessen, die Verstrickung von aufklärender Rationalität mit der sich in Gestalt des Nationalsozialismus gesellschaftlich durchsetzenden Barbarisierung zu erläutern. Wird das Buch gemeinhin als durch und durch pessimistisch begriffen, als eines der „schwärzesten Bücher“ (Habermas) des 20. Jahrhunderts, so wird dabei übersehen, dass darin das interdisziplinäre materialistische Programm aus den 1930er Jahren nicht blank verabschiedet, sondern seinerseits transformiert wird. Diese Transformation hat ihre Vorgeschichte in einem alternativen Verständnis von Materialismus, das Adorno entwickelt hat.

 

Adorno hatte in seiner ebenfalls 1931 gehaltenen Antrittsvorlesung „Die Aktualität der Philosophie“ zur selben Zeit wie Horkheimer in seiner Antrittsrede als neuer Direktor des Instituts für Sozialforschung „Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung“ ebenfalls Überlegungen zum Verhältnis von Philosophie, Wissenschaft und historischem Materialismus vorgestellt. Diese rückten aber nicht die Organisation des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses in der Koordination interdisziplinärer Kooperation in den Mittelpunkt, sondern die Beziehung von erkennendem Subjekt und seinen gesellschaftlich vermittelten Gegenständen. Für Adorno bestand die Aufgabe der Philosophie darin, das von den Wissenschaften untersuchte und aufbereitete Material zu deuten. Betrieb die Wissenschaft Forschung, so interpretierte die Philosophie die Ergebnisse dieser Forschung. Die Philosophie kann so ihre Erkenntnisse nicht unabhängig von den Wissenschaften, sondern nur in Auseinandersetzung mit diesen formulieren. Aus sich selbst heraus, mit ihren eigenen begrifflichen Mitteln ist es der Philosophie demnach nicht möglich zu verbindlichen Erkenntnissen zu gelangen, die mehr wären als komplex formulierte Tautologien. Philosophie und Wissenschaften gehen somit ein Abhängigkeitsverhältnis ein, das sie zur Arbeitsteilung nötigt. Bliebe die Philosophie ohne die anderen Wissenschaften in dem Sinne gegenstandslos, dass es ihr nicht möglich wäre, etwas über die gesellschaftliche Wirklichkeit auszusagen, so könnten die Wissenschaften ohne die Philosophie nicht wissen, was ihre Erkenntnisse bedeuten, so jedenfalls Adornos Überzeugung. Den historischen Materialismus führt Adorno in seiner Diskussion nun so ein, dass er letztlich diejenige kritische Instanz sei, der sich die Philosophie zu stellen habe. Verwandeln sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse für die Philosophie in zu deutende Rätselfiguren, deren Bedeutung erst noch zu erschließen sei, so begreift Adorno im Anschluss an Lukács die Warenform als Figur, die den Schlüssel zur verrätselten gesellschaftlichen Wirklichkeit liefert.

 

Der Materialismus, den Adorno hier vorschlägt, geht ebenfalls wie derjenige Horkheimers von einer gesellschaftlichen Erfahrung aus, die Adorno jedoch in andere Worte kleidet. Statt wie der Deutsche Idealismus auf ein Ganzes abzuzielen und es systematisch zur Darstellung zu bringen, setzt Adornos Materialismus bei den Bruchstücken an, die nicht im Ganzen aufgehen. Durch Deutung legt er die Spuren frei, die das Ganze bzw. die Gesellschaft hinterlassen hat. Diese Bruchstücke oder Fragmente werden nicht als etwas Unmittelbares verstanden, sie sind immer schon durch gesellschaftliche Praxis und durch die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die von ihnen vorliegen, präformiert.

 

Führt man nun die von Horkheimer entwickelten Überlegungen mit denen Adornos zusammen, so erweisen sie sich als komplementär, ohne dass daraus jedoch eine gerundete Einheit entstünde, ein quasi fertiges Konzept interdisziplinärer materialistischer Theorie. Ein solches findet sich auch in der Dialektik der Aufklärung nicht, dennoch lässt sich dort erstmals eine Zusammenführung der beiden ursprünglichen materialistischen Ansätze vorfinden. Die interdisziplinäre Orientierung, die Horkheimer seinem Materialismus gab, findet sich auch hier: Ökonomie, Psychoanalyse, Philosophie, in Ansätzen auch ethnologische Überlegungen werden in den gleichwohl als philosophisch verstandenen Fragmenten, die das Buch versammelt, kombiniert. Adornos Modell der enträtselnden Deutung bestimmten Materials liefert dagegen die Methodologie, die besonders im Exkurs zu Odysseus und im Kapitel über Kulturindustrie ihre Durchführung findet. Sucht man nun ein Motiv, an dem sich das Ineinandergreifen der beiden materialistischen Modelle begreifen lässt, so wird man fündig, wenn man das „Eingedenken der Natur im Subjekt“ in den Blick nimmt. Vermag solches Eingedenken einerseits die Theorie davor zu bewahren, sich der herrschenden (Ir)Rationalität zu unterwerfen und stellt es insofern ein Mittel dar, um die Theorie vor ihrer Vereinnahmung zu schützen, so ermöglicht es andererseits den Niederschlag gesellschaftlicher Herrschaft im Subjekt sichtbar zu machen und die eigene Objektivität und Natürlichkeit des Subjekts zu reflektieren. Weil dieses Eingedenken der Natur im Subjekt zugleich die Herrschaftsfunktion des Subjekts kritisch zu bestimmen versucht, ist es zugleich ein Eingedenken des Subjekts in der Natur, wodurch das Subjekt als eine zugleich materielle wie geistige Vermittlungsinstanz von innerer und äußerer Natur begreifbar wird. Der Materialismus der kritischen Theorie hat darum genau diesen Doppelcharakter eines Eingedenkens der Natur im Subjekt und eines Eingedenkens des Subjekts in der Natur. Der später von Adorno in der Negativen Dialektik und in dem Aufsatz „Zu Subjekt und Objekt“ erläuterte Vorrang des Objekts verleiht diesem Materialismus nur noch einmal eine erkenntnistheoretische Gestalt.

 

Herausforderungen für die Gegenwart

Aus einer heutigen Perspektive stellt sich die Frage, wie dieser Materialismus gedacht werden muss, wenn sich mit ihm die gesellschaftliche Gegenwart kritisch bestimmen lassen soll. Dies gilt vor allem hinsichtlich der Interdisziplinarität eines solchen Materialismus. Heute ist darum erneut zu fragen, was Interdisziplinarität aus materialistischer bzw. kritisch-theoretischer Perspektive eigentlich bedeuten und welchem Zweck sie dienen soll. Weiter ist zu fragen, ob es für einen solchen Materialismus Gegenstände gibt, mit denen er sich vorrangig zu beschäftigen hätte. Gibt es nicht nur den Vorrang des Objekts sondern auch den Vorrang bestimmter Objekte für die Theorie, wenn sie die Gegenwart in ausreichendem Maße kritisieren möchte? Mit Blick auf die Krisen der Gegenwart und die sie begleitenden wissenschaftlichen Konjunkturen ließe sich eine nicht gerade kurze Liste solcher Gegenstände erstellen: Antisemitismus, Autoritarismus, Care-Krise, Corona-Pandemie, Erderwärmung, religiöser Fundamentalismus, Homophobie, Klimawandel, Krieg, Nationalismus, Neoliberalismus, Sexismus, Rassismus, Transphobie etc. Schließlich ist zu diskutieren, in welchem Verhältnis ein solcher interdisziplinärer Materialismus zu den sogenannten neuen Materialismen steht, wie er sich in Bezug auf intersektionale Ansätze positioniert und schließlich – das ist seine Gretchenfrage – wie er es mit dem Verhältnis von Theorie und Praxis hält.

 

Projekte

  • Dr. Alexandra Colligs - Eine andere Geschichte des Geistes (Habilitationsprojekt)
  • Prof. Dr. Philip Hogh und Prof. Dr. Dirk Stederoth - Kritische Nachhaltigkeitswissenschaft? (Kooperationsprojekt mit dem Kassel Institute for Sustainability)

Veranstaltungen

  • Januar 2025 - Interdisziplinärer Materialismus III: Antisemitismus heute

Vergangene Veranstaltungen

  • 27. und 28. Oktober 2023 - Interdisziplinärer Materialismus II: Über Arbeit - Mit Vorträgen von: Helen Akin (Jena), Alexandra Colligs (Kassel), Nikolas Lelle (Berlin), Robin Mohan (Frankfurt/Main), Dominik Novkovic (Kassel), Lea Ricarda Prix (Dortmund)