Bus und Bahn auch bei Infektionswellen sicher
Busse und Bahnen waren während der Corona-Pandemie und sind auch während Infektionswellen durch andere aerogen - über die Luft - übertragene Krankheiten sichere Verkehrsmittel. Das ist eines der Ergebnisse eines Forschungsprojekts an der Universität Kassel zum ÖPNV in der Corona-Pandemie. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Prof. Dr.-Ing. Carsten Sommer zeigen, dass sich das Infektionsrisiko durch Viren in der Atemluft in Bussen und Bahnen grundlegend von jenem in geschlossenen Räumen unterscheidet.
Die Corona-Pandemie sei zwar vorüber, sagt Sommer. Aber die Erfahrungen aus der jüngsten Pandemie sollten für kommende Pandemien und Epidemien genutzt werden. Ungeachtet dessen treten weiterhin saisonale Infektionskrankheiten wie Erkältungen oder Influenza auf, die ebenfalls durch Aerosole und mithin über die Luft übertragen werden. „Der ÖPNV ist eine wichtige Säule einer nachhaltigen Mobilität. Er muss und kann auch während Krankheitswellen aufrechterhalten werden. Wir zeigen mit unserer Studie Maßnahmen zum Infektionsschutz auf, die den Verantwortlichen helfen können, die Nutzung des ÖPNV auch während Phasen mit hohem Infektionsgeschehen für Passagiere noch sicher zu gestalten“, wendet sich Sommer an die Politik, an die Akteure des ÖPNV und an die Fahrzeughersteller.
Wissenschaft zeigt Handlungsoptionen für einen besseren ÖPNV auf
Die Forschungsgruppe um Sommer hat während der Corona-Pandemie mit dem Projekt EMILIA (Entwicklung von Maßnahmen für einen pandemieresistenten Öffentlichen Personennahverkehr) das objektiv vorhandene und subjektiv wahrgenommene Gesundheitsrisiko im ÖPNV ermittelt, das Verhalten und die Nutzungsveränderungen der Fahrgäste im ÖPNV erhoben sowie mehr als 60 Handlungsoptionen für den ÖPNV aus den Erkenntnissen abgeleitet, die in der zweiten Jahreshälfte 2024 publiziert werden sollen.
Zahlreiche Partner aus ganz Deutschland und der Bund wirken zusammen
An dem Forschungsprojekt, das mit 1,3 Millionen Euro vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) über drei Jahre gefördert wurde, beteiligten sich zahlreiche Akteure des ÖPNV aus mehreren Bundesländern. Zusätzlich gab es drei Projektpartner, die der Forschung der Universität Kassel geholfen haben. Mehr zu den Partnern lesen Sie hier: https://tinyurl.com/9apjt992
Kombination von FFP-2-Maske und optimaler Lüftung ist der beste Schutz
„Der ÖPNV ist kein Infektionstreiber“, stellt Sommer fest. Wie in allen Alltagssituationen komme es selbstverständlich auch im ÖPNV zu Infektionen. Doch mit optimal eingestellten Lüftungssystemen könne das Infektionsrisiko effektiv gemindert werden. Noch besser wirkten Masken, die besonders in Zeiten von hohen Inzidenzen als zusätzliche Schutzmaßnahme bedacht werden sollten. Sommer rät daher zur Kombination von FFP-2-Maske und optimierter Lüftung.
Selbst bei hohen Inzidenzen können der Austausch von verbrauchter und frischer Luft durch die optimale Einstellung der Lüftungsanlage sowie das Nutzen von FFP2-Masken das Infektionsrisiko auf deutlich unter 0,1 Prozent Prozent senken. Mehr zur Senkung des Infektionsrisikos lesen Sie hier: https://tinyurl.com/9apjt992
Subjektive Wahrnehmung und objektive Risiken sind zweierlei
„Die subjektive Wahrnehmung eines Risikos und das objektive, tatsächliche Infektionsrisiko können sich durchaus widersprechen“, sagt Natalie Schneider, wissenschaftliche Mitarbeiterin. Generelles Türöffnen in der Pandemie sei als wichtige Maßnahme im ÖPNV bewertet und damit zu einem Werkzeug für die Verbesserung des subjektiven Sicherheitsempfindens geworden, berichtet die Wissenschaftlerin. Die Ergebnisse der Aerosolsimulation in den Fahrzeugen zeigten hingegen, dass der Luftaustausch über die geöffneten Türen an Haltestellen nur einen geringen Beitrag leiste. Eine durchgehend laufende Lüftung im Fahrzeug habe sich als deutlich effektiver erwiesen.
Politik rät gegen wissenschaftliche Erkenntnisse von ÖPNV-Nutzung ab
In den Anfängen der Pandemie habe die Politik von der Benutzung des ÖPNV wegen des mutmaßlich hohen Infektionsrisikos abgeraten, berichtet Sommer. Ins Bundesinfektionsschutzgesetz sei während der Pandemie der Passus aufgenommen worden, dass die Kapazität im ÖPNV nur zu 50 Prozent ausgelastet werden solle, obwohl es doch die Aufgabe des ÖPNV sei, Verkehre zu bündeln. Im Gegensatz dazu standen nach Angaben der Kasseler Forscherinnen und Forscher schon damals die Ergebnisse, die Wissenschaftler in ersten Studien zur Frage des Infektionsrisikos durch das Corona-Virus Sars-CoV-2 im ÖPNV veröffentlicht hatten. Mehr zu den Studien lesen Sie hier: https://tinyurl.com/9apjt992
Menschen meiden in der Pandemie den ÖPNV
Das entgegen der wissenschaftlichen Erkenntnis unterstellte mutmaßlich höhere Infektionsrisiko im ÖPNV zeigte Wirkung. Anna Helfers, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Promovierende im Bereich der Risikowahrnehmung in der Psychologie, verweist darauf, dass im ersten Jahr der Pandemie 57 Prozent der Befragten berichteten, die ÖPNV-Nutzung reduziert oder eingestellt zu haben. Im dritten Jahr der Pandemie waren es noch 32 Prozent, die den ÖPNV mieden. Der ÖPNV sei während aller drei Befragungswellen in den Jahren 2021, 2022 und 2023 von den repräsentativ ausgewählten Befragten aus Kassel (zwischen 788 und 1.081 Personen je Welle) als gefährlicher Ort wahrgenommen worden. Subjektiv sei die Nutzung des ÖPNV als viel „riskanter“ als die Anwesenheit am Arbeitsplatz wahrgenommen worden. Die Befragten nannten die Maskenpflicht, generelles Türöffnen an jeder Haltestelle und die Belüftung der Fahrzeuge als wichtigste Maßnahmen in der subjektiven Wahrnehmung, um das Infektionsrisiko zu senken. In Zeiten einer Maskenpflicht sei die Kontrolle der Einhaltung dieser Regelungen wichtig für die Befragten gewesen.
Herne zieht Konsequenz: Gestaffelte Schulanfangszeiten erhöhen Komfort und Sicherheit
Die Auswirkung einer geringeren Belegung mit Fahrgästen hat Johanna Koch aus dem Forschungsteam EMILIA gemeinsam mit der WVI Prof. Wermuth Verkehrsforschung und Infrastrukturplanung GmbH an einem Beispiel aus Herne untersucht. Die Stadt Herne, berichtet Johanna Koch, habe zur Minderung des Infektionsrisikos während der Pandemie die Schulzeiten gestaffelt. Konkret habe dies die Auslastung der Fahrzeuge in Herne im Durchschnitt um 44 Prozent reduziert und damit das Infektionsrisiko um 18 Prozent gemindert, ohne dabei den Fahrzeugbedarf und die Kosten zu erhöhen. Anders ausgedrückt: An einem einzigen Morgen ohne gestaffelte Schulanfangszeiten wäre mit 63 Infektionen auf 10.000 Personen zu rechnen. Mit gestaffelten Schulanfangszeiten wären dies nur 52 Infektionen auf 10.000 Personen. Dabei ist zu beachten, dass in der Rechnung davon ausgegangen wurde, dass keine Masken getragen werden.
Johanna Koch regt an, rechtzeitig vor einer neuen Pandemie überall in Deutschland Konzepte für gestaffelte Schulzeiten zu entwickeln oder besser noch den Unterrichtsbeginn generell und auch außerhalb einer Pandemie zu staffeln, um den Komfort durch eine reduzierte Fahrzeugauslastung und die empfundene Sicherheit für alle Fahrgäste zu erhöhen sowie den ÖPNV von den kostenintensiven Verkehrsspitzen zu entlasten. Mehr zur Schulzeitstaffelung lesen Sie hier: https://tinyurl.com/9apjt992
Zur Methodik und den Ergebnissen der Studie:
Das Team der Forscherinnen und Forscher aus Kassel simulierte mit der Unterstützung der ESI-Group die Verteilung von Aerosolen in einem Standardlinienbus und einem Zug. Das Team berechnete die Ansteckungsgefahr unter verschiedenen Bedingungen. „Das Tragen einer FFP2-Maske mindert das Infektionsrisiko erheblich. In Verbindung mit einer wirkungsvoll eingestellten Ent- und Belüftung in einem Fahrzeug des ÖPNV reduziert sich das Infektionsrisiko abermals“, fasst Prof. Dr. Carsten Sommer das zentrale Ergebnis zusammen. Die geringere Belegung der Fahrzeuge mit Fahrgästen mindere das Infektionsrisiko, wenn auch nicht so stark wie das Tragen einer Maske in Kombination mit einer geeigneten Lüftung. Mehr zur Methodik lesen Sie hier: https://tinyurl.com/9apjt992
Die besten Instrumente zur Minderung des Infektionsrisikos: Maske, Lüftung, Auslastung
Das Risiko einer Infektion im ÖPNV verändert sich mit jeder Änderung der Umweltbedingungen. Um die Effektivität einzelner Schutzmaßnahmen abschätzen zu können, definierten die Forscherinnen und Forscher einige grundlegende Bedingungen und untersuchten durch die Veränderung einzelner Parameter in der Simulation die Wirksamkeit der einzelnen Maßnahmen.
Grundsätzlich gingen sie von einer infektionstechnisch sehr unvorteilhaften Annahme (Worst-Case) aus und unterstellten eine offizielle Inzidenz von 100 (100 Infizierte unter 100.000 Einwohnern) sowie eine Dunkelziffer von 3 (tatsächliche Inzidenz 300), bei einer Fahrt von 20 Minuten in einem zu 80 Prozent ausgelasteten Stadtbus mit nur geringer Belüftung, in dem kein Fahrgast eine Maske trägt. Unter diesen Bedingungen besteht ein durchschnittliches Infektionsrisiko von 0,8 Prozent. Da bedeutet, dass sich unter diesen Annahmen rechnerisch 80 von 10.000 Personen infizieren. In diesem Worst-Case-Szenario haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nun einzelne Annahmen verändert, um deren Schutzwirkung einzelner Maßnahmen zu ermitteln.
Das Tragen einer FFP2-Maske bietet auch im ÖPNV den besten Schutz vor einer Virusinfektion durch Aerosole. Wenn die übrigen Worst-Case-Bedingungen fortgelten, aber alle Personen eine FFP2-Maske tragen, wird das Infektionsrisiko auf nahezu null gesenkt.
Je effizienter die Lüftung im Fahrzeug arbeitet, desto mehr sinkt das Infektionsrisiko. Unter unveränderten Worst-Case-Annahmen, aber allein mit einer optimalen Einstellung der Lüftung sinkt das Infektionsrisiko auf 0,06 Prozent. Es infizieren sich also rechnerisch 6 von 10.000 Personen auf dieser Fahrt.
Die Reduzierung der Fahrzeugauslastung im Bus – unter ansonsten gleichen Worst-Case-Bedingungen – von 80 auf 20 Prozent vermindert das Infektionsrisiko von 0,8 auf 0,3 Prozent. Im gering besetzten Bus infizieren sich also rechnerisch 30 von 10.000 Reisenden, im voll besetzten Bus sind es 80 von 10.000 Personen.
„Jede Minderung des Infektionsrisikos ist ein Gewinn an Sicherheit“, urteilt Lea Fouckhardt, „aber das Tragen von FFP2-Masken und die optimale Lüftung übertreffen andere Maßnahmen bei weitem in ihrer positiven Wirkung.“ Werden die drei genannten Schutzmaßnahmen (FFP2-Maske, optimale Lüftung, geringe Auslastung) miteinander kombiniert, sinkt das Risiko nach Angaben der Forscherin auf fast null. In diesem Fall würden sich rechnerisch 5 von 10.000.000 Personen infizieren.
Kontakt:
Univ.-Prof. Dr.-Ing. Carsten Sommer
Universität Kassel, Fachgebiet Verkehrsplanung und Verkehrssysteme
Telefon: +49 561 804-3381
Mail: c.sommer[at]uni-kassel[dot]de
Dipl.-Ing. M. Sc. Natalie Schneider
Universität Kassel, Fachgebiet Verkehrsplanung und Verkehrssysteme
Telefon: +49 561 804-3279
Mail: n.schneider[at]uni-kassel[dot]de
M. Sc. Lea Fouckhardt
Universität Kassel, Fachgebiet Verkehrsplanung und Verkehrssysteme
Telefon: +49 561 804-3279
Mail: l.fouckhardt[at]uni-kassel[dot]de