11.12.2023 | Porträts und Geschichten

Nicht perfekt – aber belastbar

In einem DFG-Schwerpunktprogramm werden Konstruktionsprinzipien historischer Gebäude des 20. Jahrhunderts erforscht

Es gibt die tadellos ebenmäßigen europäischen Normgurken und -möhren, jedoch auch solche, die krumm und schief sind. Obwohl qualitativ nicht schlechter, werden sie aussortiert und weggeschmissen. Warum? Weil sie nicht in die ebenfalls normierten Transportkartons passen. Das ist nicht nur schade, sondern ein Frevel. Was das mit dem Bauingenieurwesen zu tun hat, erklärt Prof. Dr.-Ing. Werner Seim, Leiter des Fachgebiets Bauwerkserhaltung und Holzbau am Institut für konstruktiven Ingenieurbau an der Uni Kassel. Er und Prof. Dr. Bernhard Middendorf, Fachgebiet Werkstoffe des Bauwesens und Bauchemie, bearbeiten zwei Teilprojekte im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms „Kulturerbe Konstruktion – Grundlagen einer ingenieurwissenschaftlich fundierten Denkmalpflege für das bauliche Erbe der Hochmoderne“.

Es geht in beiden Teilprojekten um die Erforschung von Bauwerken, die etwa im Zeitraum zwischen 1900 und 1980 in der Phase der Hochmoderne in Deutschland gebaut wurden. Viele dieser Gebäude, so Seim und Middendorf, würden entweder abgerissen oder durch normgerechte Instandsetzungsmaßnahmen bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Und das nur, weil die aktuellen normativen Regelungen zu wenig Rücksicht auf die Besonderheiten des Bestands nehmen. Ein Bewusstsein für die denkmalwürdigen Konstruktionsprinzipien dieser – vielfach emblematischen – Bauten sei oft nicht vorhanden. Deren historische Besonderheiten manifestierten sich nämlich nicht nur in bemerkenswerten Fassaden,sondernhäufigauchindem, was darunterliege, nämlich in experimentellen Herstellungsprozessen oder Ingenieurleistungen, die wiederum – siehe Gurken und Möhren – oft nicht mit heutigen Bau-Normen übereinstimmten. Kurzum, der Forschungsverbund bündelt fachübergreifend die Kompetenzen der bislang zumeist unabhängig voneinander agierenden Disziplinen Bauforschung, Denkmalpflege und Bauingenieurwesen.

In einer Zeit, in der „Nachhaltigkeit“ und „Ressourcenschonung“ in aller Munde seien, werde viel zu viel abgerissen, finden Middendorf und Seim. Natürlich seien Instandsetzungen historischer Gebäude teuer, vor allem dann, wenn jahre- oder jahrzehntelang nichts an ihnen gemacht wurde.

Bild: Andreas Gebhardt
Von großer Festigkeit und Stabilität: Prof. Dr. Bernhard Middendorf und M. Sc. Cristin Umbach zeigen eine Versuchsfläche, auf welcher der textilbewehrte Spezialbeton dünn aufgetragen wurde

Die beiden Forscher entwickeln Methoden, der eine im Bereich Holzbau, der andere im Bereich Betonbau, mit denen es grundsätzlich möglich ist, Gebäude in ihrer ursprünglichen Bausubstanz zu erhalten, sie also, ohne sie in ihrer Grundstruktur zu verändern, für die Zukunft zu sichern. So haben Middendorf und sein Team einen mit Textilbewehrung verstärkten Spezialbeton entwickelt, der extrem dünn aufgetragen werden kann. Dabei ist er so eigenschaftsoptimiert, dass er nicht nur eleganten Stahlbetonkonstruktionen die nötige Festigkeit und Tragsicherheit verleiht, sondern auch nicht deren optisches Erscheinungsbild verändert. Mit herkömmlichem Beton, der – nach Norm – um ein Vielfaches dicker aufgetragen werden müsse, sei das nicht möglich.

Beim Holzbau-Projekt ist das übergeordnete Ziel, die Tragfähigkeit von hölzernen Dachkonstruktionen – um die geht es hierüberwiegend–nachzuweisen.Seim: „Wir schauen uns an, wo damals bei der Herstellung typische Fehler gemacht wurden oder Unregelmäßigkeiten vorliegen. Sei es, dass Nägel in Holzverbindungen nicht optimal platziert wurden, sei es, dass das Holz Risse aufweist. Wir versuchen dann zu kategorisieren und zu charakterisieren und schließlich haben wir Messmethoden, mit denen wir die Tragfähigkeit dieser alten Konstruktionen auch experimentell nachweisen können.“ Auf die kommt es schließlich an.

Während es beim Betonbau im Denkmalschutz darum gehen sollte, möglichst wenig von der alten Substanz zu entfernen und möglichst wenig zur Instandsetzung hinzuzufügen, versuchen Seim und seine Mitarbeiter „im besten Fall gar nichts oder fast gar nichts“ zu machen, um ein Dachtragwerk zu erhalten. „Unser optimaler Beitrag ist, wenn man nach einer Instandsetzung so gut wie nichts sieht, also ein Denkmalobjekt mit minimalen Eingriffen in seiner Substanz erhalten wird und weiterhin über mehrere Jahrzehnte – und das ist der Hauptaspekt – sicher genutzt werden kann.“ Wesentlich ist bei dem DFG-Forschungsprojekt, dass nicht die Erhaltung einzelner Bauwerke im Fokus steht. Das wäre eine Ingenieuraufgabe. Vielmehr entwickeln Seim und Middendorf forschend an konkreten Beispielen wissenschaftlich fundierte, allgemein anwendbare und übertragbare Methoden, die dann wiederum in Bau-Normen einfließen können: natürlich zum Schutz und zur langfristigen Sicherung der historischen Gebäude und nicht, damit sie aussortiert werden wie Gurken und Möhren.

 

Dieser Beitrag erschien im Universitäts-Magazin publik 2023/4. Text: Andreas Gebhardt

Informationen zum DFG-Schwerpunktprogramm 2255: