Das Ziel klar vor Augen: Flora Kliem peilt die Paralympics in Paris an
„Ich habe in den letzten Jahren bei Interviews immer ‚Paris 2024‘ als mein Ziel genannt. Aber ich habe nie daran geglaubt, dass das wirklich passiert.“ Das sagt Flora Kliem. Sie ist 26 Jahre alt, studiert Grundschullehramt an der Universität Kassel – und fährt diesen Sommer wohl genau dort hin: nach Paris, zu den Paralympischen Spielen. Dort wird sie als einzige Bogensportlerin für Deutschland antreten. „Ich freue mich sehr“, betont sie. „Es ist etwas ganz Besonderes, da mit Sportlerinnen und Sportlern aus den verschiedensten Sportarten zusammen als ‚Team Deutschland‘ hinzufahren.“
Flora Kliem ist in Berlin geboren, lebt aber nun seit acht Jahren in Göttingen. Da sie schon immer den Wunsch hatte, an einer Grundschule zu arbeiten, hat sie sich für das entsprechende Lehramtsstudium an der Uni Kassel entschieden. Inzwischen ist sie im achten Semester – ihre Studienzeit wird sich wohl noch etwas verlängern, denn der Leistungssport ist sehr zeitintensiv. Vier bis sechs Mal die Woche steht sie mit ihrem Bogen für das Training auf dem Platz. Die meisten Wochenenden sind für Turniere und Wettkämpfe reserviert. Und dazwischen gibt sie, wann immer möglich, noch Anfängerkurse in ihrem Sportverein, unter anderem für Langzeitpatientinnen und -patienten aus der Kinderklinik in Göttingen.
‚Ihr Verein‘, das ist der ASC Göttingen, der Grund, warum sie nie nach Kassel gezogen ist. „Ohne die Unterstützung, die ich die letzten Jahre – finanziell und allgemein – durch den ASC erfahren habe, wäre es mir nie möglich gewesen, diesen Sport so ambitioniert zu verfolgen“, erzählt sie. Ihre Eltern hätten das nicht auf dieselbe Weise leisten können, denn Kliem hat noch fünf Geschwister. Seit diesem Jahr wird die Sportlerin außerdem von der Deutschen Sporthilfe gefördert, vorher finanzierte sie sich mithilfe eines Stipendiums. „Das Geld bekomme ich quasi als Ausgleich dafür, dass sich mein Studium durch den Sport, die vielen Trainings- und Wettkampfzeiten, verlängert“, erklärt Kliem. Über das Budget der Nationalmannschaft wird ihr zusätzlich Material gestellt, zum Beispiel ihr neuester Zweitbogen; auch Reisekosten bei Wettkämpfen werden übernommen.
Doch warum eigentlich ausgerechnet Bogenschießen? „Zum ersten Mal habe ich Bogenschießen damals in der Reha ausprobiert, 2014, nach meinem Unfall – aber dafür direkt mehrmals die Woche“, erzählt sie. Im Alter von 15 Jahren hatte Flora Kliem einen schweren Unfall, der zu einem Polytrauma führte. Über ihre anschließende Genesung sagt sie selbst: „Ich denke manchmal, dass ich wirklich krasse Selbstheilungskräfte habe – und ehrlich gesagt: Ich hatte auch einfach unfassbar Glück.“ Als Teil der Behandlung lernte sie also das Bogenschießen kennen, einen anerkannten Reha-Sport für Rückenverletzungen, und fand direkt Freude daran.
Bis vor einem Jahr saß Flora Kliem noch im Rollstuhl und hat im Sitzen geschossen. Dann hat sie sich für eine Amputation entschieden, dank der sie letztendlich das Laufen wieder erlernen konnte. „Ab dem Knie abwärts fehlt mir der linke Unterschenkel, außerdem habe ich mehrere Versteifungen im Rücken“, erklärt sie. Das stelle vor allem eine Herausforderung beim Stehen dar, es fehlen Balance und Stabilität – für das Bogenschießen essenziell. Daher nutzt sie ein selbstgebautes Hilfsmittel, das sie im Stand stabilisiert: „Das Teil hat gar keinen richtigen Namen, ich nenne es einfach ‚Stehstuhl‘. Die sehen auch bei jedem anders aus, weil sie eben immer selbst gebaut sind.“
Generell spricht die Para-Athletin sehr positiv über ihre Wettkampferfahrungen: „Man lernt bei diesen Wettkämpfen so viele coole, internationale Leute kennen. Und die Stimmung ist immer total solidarisch – das liegt aber vielleicht auch an der Sportart.“ Denn im Bogenschießen tritt man bekanntlich alleine an: Wer im Wettkampf nicht trifft, könne wirklich nur sich selbst dafür verantwortlich machen, erklärt sie und lacht.
Und wie war das jetzt mit Paris? Nachdem die Bogenschützin im August 2023 für Deutschland den Quotenplatz bei den Paralympischen Spielen sichern konnte, hofft sie, dass dieser am Ende auch tatsächlich an sie geht. Aber die Wahrscheinlichkeit ist groß – schließlich ist sie aktuell die Nummer 1 in Deutschland, mit dem höchsten Kaderstatus des Landes in ihrer Startklasse.
"Davon würden am Ende alle Kinder profitieren …"
Flora Kliem hat 2020 ihr Studium an der Uni Kassel begonnen – während der Corona-Pandemie, im Online-Semester. Wegen der digitalen Lehre wusste zunächst niemand, dass sie im Rollstuhl sitzt, denn: es konnte ja niemand sehen. In einigen Veranstaltungen ging es um das Thema Inklusion an Grundschulen, erzählt sie. „Da habe ich einige sehr unschöne Äußerungen von meinen Mitstudierenden erlebt, die in Präsenz sicherlich anders reagiert hätten“, erinnert sich Kliem. „Aber am Ende sind das einzelne Menschen und nicht die große Masse. Die meisten waren und sind unterstützend.“ Sie freut sich über das Engagement vieler Lehrender, die zum Beispiel ihre Teilnahme an Exkursionen ermöglichen. Es gebe für das Studium mit Behinderung auch gewisse Erleichterungen, wie eine bevorzugte Kurseinwahl, da bspw. Ortswechsel schwerer fallen können. Bei der Barrierefreiheit an der Uni sieht sie noch Verbesserungsbedarf: „Am AVZ gibt es in jedem Gebäude viele Fahrstühle, das ist super. Aber sonst ist es teilweise noch schwierig, sich am Campus zu bewegen.“ Allerdings sei das nicht nur an der Uni ein Thema, sondern gelte generell für Deutschland.
Aus ihrer bisherigen Praxiserfahrung hat die angehende Lehrerin viel Positives zu berichten. Obwohl sie im Voraus gewarnt worden sei, dass Kinder vor ihr und ihrer Behinderung Angst haben könnten, hat sich das für Kliem nicht bestätigt. Dennoch sieht sie für sich einen Auftrag, über das Thema aufzuklären. „Ich habe mal einem Kind erklärt, dass ‚behindert‘ keine Beleidigung ist und es nicht schlimm ist, wenn ich das über mich sage, weil es ja stimmt. Da ist es aus allen Wolken gefallen“, erinnert sie sich mit einem Schmunzeln. Und wie steht die angehende Lehrerin zum Thema Inklusion an Schulen? „Förder- und Regelschulen zusammenzulegen finde ich eigentlich super. Davon würden am Ende meiner Meinung nach alle Kinder profitieren“, betont die Studentin. Jedoch sei dabei entscheidend, die Förderlehrkräfte mitzunehmen und ebenfalls in die Klassen zu integrieren. Auf den neuen Studiengang Förderpädagogik an der Uni Kassel blickt sie positiv: „Förderschullehrkräfte brauchen wir unbedingt, sie sind unerlässlich – und zwar ganz unabhängig von den gegebenen Schul- oder Klassen-Konstellationen.“
Dieser Beitrag erschien im Universitäts-Magazin publik 2024/2. Text: Lisa-Maxine Klein