Barrierefreiheit und Teilhabe in der Freiraum-, Stadt- und Landschaftsplanung
Barrierefreiheit und Teilhabe im Kontext von Freiraum-, Stadt- und Landschaftsplanung tragen zu mehreren UN-Nachhaltigkeitszielen bei, auch bzgl. der fundierten Gestaltung eines inklusiven Bildungssystems (SDG 4 „Hochwertige Bildung“, Bonna et al. 2021, aus Disability-Studies-Perspektive Hirschberg/Köbsell 2021). Teilhabe bezieht sich unter anderem auf den gleichberechtigten Zugang unterschiedlicher Personengruppen zu politischen Entscheidungsprozessen, zu denen auch die Planung von Freiräumen und Landschaften zählt (Gailing/Leibenath 2017), und ist somit für das SDG 5 „Geschlechtergerechtigkeit“ sowie für das SDG 10 „Weniger Ungleichheiten“ relevant. Im Rahmen des SDG 11 „Nachhaltige Städte und Gemeinden“ ist die Freiraum- Stadt- und Landschaftsplanung für die inklusive und barrierefreie Bereitstellung von grüner und ökologisch nachhaltiger öffentlicher Infrastruktur zuständig und berührt damit auch andere SDGs wie die Ziele 3 „Gesundheit und Wohlergehen“, 13 „Maßnahmen zum Klimaschutz“ und 15 „Leben an Land“. Barrierefreiheit und das übergeordnete Menschenrechtsprinzip demokratischer Teilhabe sind am spannungsreichen Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ausgerichtet, also an den individuellen Lebensmöglichkeiten innerhalb der jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen unter Beachtung von Zeit und Ort (Broderick 2020, Hirschberg 2021).
Dieses Spannungsverhältnis soll im Forschungskolleg am Beispiel der Planung und Gestaltung öffentlicher Grün-, Stadt- und Landschaftsräume reflektiert werden (Hennecke 2019). Gerechtigkeitsbezogene Fragen von Barrierefreiheit und Teilhabe stellen sich sowohl mit Blick auf die Ergebnisse von Planung als auch hinsichtlich der entsprechenden Prozesse.
Wohnen und Arbeiten in post-pandemischer Stadtplanung
Schon allein die Frage, ob es wünschenswert ist, Arbeiten und Wohnen in der post-pandemischen Stadtplanung räumlich zusammenzudenken, beispielsweise durch die Verstetigung von Homeoffice-Modellen (bzw. mobilem Arbeiten) oder das Ideal einer Stadt der kurzen Wege, ist dabei nicht für alle Bevölkerungsgruppen pauschal zu beantworten. So sind derartige Vorstellungen von Stadt vor dem Hintergrund einer bisher unvollständig umgesetzten Deinstitutionalisierung (BMAS 2021) bzw. Auflösung von Komplexeinrichtungen, in denen Wohnen, Arbeiten und Freizeit auch bei hohem Unterstützungsbedarf ermöglicht wird, für behinderte Menschen ggf. besonders zu bewerten. Gleichzeitig ist bislang wenig untersucht worden, von welchen Personengruppen Co-working-Spaces und andere neuartige Formen der räumlichen Organisation von Arbeit genutzt werden und wie sie unter Gesichtspunkten von Barrierefreiheit und Teilhabe verbessert werden können (Howell 2022).
Intersektionale Gerechtigkeit: Überlagerung von Umweltbelastungen und sozialen Benachteiligungen
Aus vielen Studien ist bekannt, dass sozio-ökonomisch benachteiligte Menschen häufig auch in Gebieten mit geringer Umweltqualität und einem niedrigen Anteil von Grün- und Freiflächen leben (Kim et al. 2022; Klimeczek 2014; Ohlmeyer et al. 2022). Vorhandene Freiflächen sind oftmals schlecht erreichbar und entsprechen nicht den Bedürfnissen marginalisierter Bevölkerungsgruppen, zu denen behinderte Menschen ebenso gehören können wie Migrant:innen, Kinder und Jugendliche, Personen mit geringem Einkommen, Obdachlose und ältere Menschen, wobei es vereinzelt auch gegenteilige Befunde gibt (Koprowska et al. 2020). Insgesamt besteht in diesem Bereich noch Forschungsbedarf, um ein besseres und differenziertes Bild der Zusammenhänge zwischen Freiraum- und Landschaftsqualitäten, Zugänglichkeit und Teilhabemöglichkeiten unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen zu gewinnen sowie darüber, inwieweit und in welcher Form entsprechende Anliegen in planerischen Strategien und Dokumenten adressiert werden (Vitrano/Lindkvist 2022).
(Un-)gerechte Transformationen von Stadt- und Landschaftsräumen
Tiefgreifende Transformationen von Siedlungs- und Freiraumstrukturen sind nötig, um den Zielen des Biodiversitätsschutzes, des Klimaschutzes und der Klima-Anpassung gerecht zu werden: Innerstädtische Straßen müssen stärker durchgrünt werden, Freiräume für Aufenthalt, Spiel und nichtmotorisierte Fortbewegung müssen zulasten des Kfz-Verkehrs ausgeweitet und aufgewertet werden, die Netto-Neuinanspruchnahme von Flächen für Siedlungs- und Verkehrszwecke im Außenbereich muss gestoppt werden (BMUB 2016, 67 f.) und für die Umstellung auf eine klimaneutrale Energieversorgung müssen weitere Wind- und Solaranlagen installiert werden, um nur einige Beispiele zu nennen. Diese gesamtgesellschaftlichen Ziele und Vorhaben bringen viele sozioökonomische Vorteilen mit sich, führen in bestimmten Bereichen jedoch auch zu höheren Kosten und anderen Nachteilen. So ist gut belegt, dass eine bessere Durchgrünung von Stadtquartieren zu steigenden Wohnkosten und zur Verdrängung der angestammten Bevölkerung führen kann – einem Phänomen, das als Green Gentrification bezeichnet wird (Anguelovski et al. 2019; Wolch et al. 2014). Von Seiten der Disability Studies werden Risiken für behinderte Menschen benannt, wenn Belangen des Biodiversitätsschutzes größeres Gewicht beigemessen wird; so befürchten behinderte Menschen, dass erkämpfte Ansprüche – wie eine inklusive Gestaltung von Arbeits-, Lebens- und Erholungsräumen – in einer weiterhin ableistischen Gesellschaft geschwächt werden könnten (Maskos 2020). Und manche Einwohner:innen ländlicher Gebiete sehen sich ungerecht behandelt, wenn Windkraftanlagen in ihrer Nähe errichtet werden (Bailey/Darkal 2018; Leibenath/Otto 2014; Lintz/Leibenath 2020).
Räumlicher Dualismus von Arbeitsstätten sowie Wohn- und Erholungsstätten
Wird (weiter nach Geschlecht ungleich verteilte) Sorgearbeit mitberücksichtigt, lässt sich ein räumlicher Dualismus von Arbeitsstätten auf der einen und Wohn- und Erholungsstätten auf der anderen Seite so nicht aufrechterhalten (s. auch Eis/Westphal in diesem Antrag). Schließlich sind Freiräume (also Gärten, Parks, Spiel- oder Sportplätze) für viele bezahlt oder ehrenamtlich Sorgearbeit Leistende Räume ihres Arbeitsalltags und sollen auch unter diesem Aspekt aus gewerkschaftlicher Perspektive im Graduiertenkolleg thematisiert werden. Gemeinschaftsorientierten Projekten wohnt trotz häufig emanzipativem Anspruch auch die Gefahr inne, dass erstrittene soziale Rechte wie (bezahlte) Assistenzleistungen zur Teilhabe deprofessionalisiert oder gar in Frage gestellt werden (Dyk/Haubner 2021).
Verringerung von Barrieren in Arbeits- und Freizeitgestaltung
Barrieren im Freiraum sind nicht an sich bedeutend, sondern nur als etwas, das für alle – und spezifisch für bestimmte Gruppen behinderter Menschen – abzubauen ist (Mor 2018, Degener 2019). Ziel ist es, Barrieren zu erkennen und so zu verringern oder aufzulösen, dass behinderte Menschen an den öffentlich finanzierten und geplanten Freiräumen teilhaben, sie nutzen und sich aneignen können. Repräsentative Befragungsdaten zeigen, dass behinderte Menschen bei gleichen Arbeits- und Freizeitwünschen auf Barrieren in ihrer Arbeits- und Freizeitgestaltung treffen, insbesondere bei Aktivitäten außerhalb des eigenen Wohnraums (Harand/Steiwede/Kleudgen 2022). In Bezug auf die Beseitigung von Barrieren sind beispielsweise auch Fragen der Materialverwendung (Ver- oder Entsiegelung) und der Sicherheit (Beleuchtung oder Lichtverschmutzung) zu diskutieren. Da alle Menschen innerhalb ihres Lebens eine (chronische) Erkrankung oder Beeinträchtigung erwerben können, sind sie nur zeitweilig nichtbehindert, wofür in den Disability Studies der Terminus „temporarily or momentarily able-bodied“ geprägt worden ist. Aus dieser Perspektive sind Beeinträchtigungen keine Ausnahme menschlicher Existenz, sondern die Regel (Hirschberg/Valentin 2020).
Grundlegend inklusive Planungsansätze entwickeln
Im Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft stellen sich Fragen der Planungsbeteiligung und einer sozial-ökologischen Konzipierung von Nutzbarkeit im Verhältnis zu tatsächlicher Nutzung und Aneignung der Räume (Hauck/Hennecke/Körner 2017, Hennecke 2019). Der Zugang zu gesellschaftlichen Einrichtungen wie dem öffentlichen Freiraum dient gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention dabei der Ausübung individueller Freiheiten und deren Ermöglichung a priori durch barrierefreie und sozial-ökologische Gestaltungen von Orten, Objekten, institutionellen Bedingungen und gesellschaftlichen Dienstleistungen ohne Vorurteile, also auch ohne einstellungsbedingte Barrieren. Eine Forschungsperspektive einzunehmen, die Behinderung als Teil menschlicher Vielfalt und somit auch als Diversitätsmerkmal begreift (Degener/Butschkau 2020), wird im Forschungskolleg sowohl für das Erkenntnisinteresse zu Nachhaltigkeit als auch für demokratische und sozial-ökologische Lernprozesse relevant sein. Ein Forschungsdesiderat hinsichtlich der Freiraum-, Stadt- und Landschaftsplanung lautet, wie Diversität in der Planung abgebildet werden kann und wie inklusive Partizipation in sozial-ökologischer Planung und Gestaltung gelingen kann. Dies betrifft nicht nur Aspekte von Behinderung, sondern auch viele andere Formen von Stigmatisierung, Benachteiligung und Marginalisierung, zum Beispiel hinsichtlich der Beteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund an der Stadt- und Landschaftsplanung (Buijs et al. 2009; Lo Piccolo/Todaro in print [online first 2021]; Zaidi/Pitt 2022). Im Kern geht es dabei um Fragen der Anerkennung (recognition – vgl. Fraser 1998): Welche Individuen oder Gruppen werden als relevant erachtet? Wessen Bedürfnisse und Interesse werden erfragt, artikuliert und berücksichtigt? Wie wirken sich das konkrete Design und die Durchführung von Planungsprozessen auf die Inklusion und Beteiligung vielfältiger sozialer Gruppen aus (vgl. die Überlegungen zu Landschaftsplanung und Performance in Leibenath 2018)? Eine kritische Stadt- und Landschaftsforschung steht dabei vor der Aufgabe herauszuarbeiten, welche machtvollen Ein- und Ausgrenzungen vorgenommen werden und wie etwa ideologische Beteiligungsansprüche oder -anforderungen mit der Subjektivierung von Planer:innen und sonstigen Akteur:innen zusammenhängen.
Denkbare Promotionsthemen, die von Stipendiat:innen im Kolleg bearbeitet werden könnten, sind:
Themen zum Spannungsfeld zwischen ökologischer Nachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit räumlicher Strukturen, also mit Blick auf die Ergebnisse der Freiraum-, Stadt- und Landschaftsplanung:
- Mit welchen Mitteln, Methoden und Instrumenten wird die Überlagerung von Umweltbelastungen und sozialen Benachteiligten in lokalen Zusammenhängen sichtbar gemacht und in planerisch-politischen Prozessen thematisiert?
- Sozialökologischer Stadtumbau im Bestand: Evaluation der Synergien und Zielkonflikte von Barrierefreiheit und Anpassung an ökologische Erfordernisse (Klimaschutz, Biodiversitätsförderung) anhand konkreter Fallstudien.
- Human-Animal Studies / Posthumanismus: Welche Spannungsfelder ergeben sich zwischen der Mitberücksichtigung von Tieren und Pflanzen und berechtigten Ansprüchen behinderter Menschen auf eine inklusive Stadtplanung?
- Nutzer:innen-Perspektive: Welche Bedeutung haben Freiräume für das Wohlbefinden am Arbeitsplatz von behinderten Menschen? Welche Rolle spielen wohnortnahe Freiräume für die Erholung im Alltag von behinderten Menschen?
- (Un-)sichtbare Behinderung: Welche sichtbaren und unsichtbaren Barrieren existieren im Freiraum? (öffentlicher Freiraum, institutioneller Freiraum) – empirische Studien mit Nutzer:innen.
- Aneignung von Freiräumen mit Barrieren: Wie nutzen behinderte Menschen Freiräume selbst bei vorhandenen Barrieren (z.B. mit Unterstützung von Assistenztieren, menschlicher oder technischer Assistenz)? Welche widerständigen Praxen lassen sich nachzeichnen?
- Inklusive Sozialräume und Stadt der kurzen Wege als neue Modelle eines sozialökologischen Wohnens und Arbeitens?
Themen zum inklusiven Design und zur Durchführung von Planungs- und Entscheidungsprozessen im Bereich der Freiraum, Stadt- und Landschaftsplanung:
- Inklusive Freiraumgestaltung und Selbstvertretung: Wie setzen sich Selbstvertretungsorganisationen (lokal, regional, national) bisher für inklusive Freiraumgestaltung ein? Mit welchen Widerständen und einstellungsbedingen Barrieren (u.a. auch ökologisch argumentiert) werden sie konfrontiert?
- Welche benachteiligten oder marginalisierten Gruppen werden in Verfahren der Freiraum-, Stadt- und Landschaftsplanung einbezogen? Wer wird adressiert, wer beteiligt sich in welcher Form und wer bleibt unsichtbar?
- Was lässt sich über die freiraum- und landschaftsbezogenen Bedürfnisse und Interessen von Menschen unterschiedlicher Herkunft und kultureller Prägung sagen?
- Gewerkschaftlicher Einsatz für behinderte Arbeitnehmer:innen: Evaluation gewerkschaftlicher Strategien zur Teilhabe von Arbeitnehmer:innen an Erholung, Freizeit und gesundheitsförderlicher Bewegung.
- Welche Konflikte und welche möglicherweise neuartigen Allianzen gibt es zwischen gesellschaftlichen Akteur:innen und Gruppen aus dem Sozialbereich (z. B. Gewerkschaften, Sozialverbände oder Eine-Welt-Gruppen) und dem Umwelt- und Naturschutzbereich?
- Wie werden Gerechtigkeitsaspekte in Freiraum-, Stadt- und Landschaftskonflikten artikuliert? Auf welche zeitlichen oder räumlichen Skalen wird Bezug genommen? Werden unterschiedlichen räumlichen Skalen (z. B. lokal und international) zueinander in Beziehung gesetzt?
- Wie wird Beteiligung diskursiv gerahmt? Welche Ansprüche und Mindeststandards werden formuliert, z. B. in kommunalen Beteiligungsstrategien oder Leitbildern?
- Mit welchen Strategien versuchen marginalisierte Gruppen, auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen und sich Möglichkeiten der Mitwirkung in der Freiraum-, Stadt- und Landschaftsplanung zu erkämpfen?
- Wie werden die Querbezüge zwischen sozialen und ökologischen Belangen in der Freiraum-, Stadt- und Landschaftsplanung kommuniziert? Welche Problematisierungen und planerischen Rationalitäten, aber auch welche Rollenverständnisse treten dabei zutage?
Literatur
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