Soziale und nachhaltige Institutionen

Zwei Personen schauen auf ein Fenster, auf dem die SDGs als Aufklebern klebenBild: Sonja_Rode_Lichtfang_ZLB_2022 cc

Die soziale, wirtschaftliche und kulturelle Nachhaltigkeit ist auch als Voraussetzung für ökologische Nachhaltigkeit zu sehen. Nur mit belastbaren Institutionen des sozialen Rechtsstaats, die an materiellen Ergebnissen für Freiheit, Gleichheit und Solidarität gemessen werden, können Konflikte zwischen individueller und kollektiver Rationalität insbesondere auch in Strukturwandelregionen gelöst werden. Juristische und demokratietheoretische Konzepte müssen erarbeitet und evaluiert werden.

Soziale, wirtschaftliche und kulturelle Nachhaltigkeit kann Voraussetzung ökologischer Nachhaltigkeit sein. Insbesondere für die gleichberechtigte Inklusion bedarf es belastbarer, transparenter und effektiver Institutionen, die auf Rechtsstaatlichkeit und gleichberechtigtem Zugang zu Justiz und Verwaltung aufbauen. Diese Erkenntnis ist in SDG 16 eingeflossen. Es lautet “Promote peaceful and inclusive societies for sustainable development, provide access to justice for all and build effective, accountable and inclusive institutions at all levels”. Dies betont die Rolle des sozialen Rechtsstaats auf allen Ebenen für eine gerechte Transformation. Konflikte um die Transformation und die Verteilung damit verbundener Lasten sollen nicht stillgestellt, sondern rechtsstaatlich ausgetragen werden können.

Freiheit, Gleichheit, Solidarität

Rechtsstaatlichkeit ist hiermit nicht als rein formelle Rechtsgleichheit zu konzipieren, sondern an ihren materiellen Ergebnissen für Freiheit, Gleichheit, Solidarität (Ottmann 2020) und Nachhaltigkeit zu messen (Welti 2015). SDG 16 betont die Bedeutung der Inklusivität von Gesellschaften und Institutionen und damit ihr positives Wechselverhältnis als Ziel. Dies ist auf die Inklusion benachteiligter Lebenslagen (prekäre Arbeit) und Gruppen (Frauen, Menschen mit Behinderungen, rassistisch Diskriminierte), und die Einbeziehung langfristiger Interessen (Erhalt der Lebensgrundlagen und Ressourcen, Erhalt von Gesundheit und Arbeitskraft) zu beziehen.

Gesellschaftliche Konflikte durch Strukturwandel

Was gesamtgesellschaftlich rational erscheint, kann aber individuell und regional zu Konflikten führen. Beispielhaft zu nennen ist der Strukturwandel von Kohle zu erneuerbaren Energien mit seinen verschiedenen sozialen Folgen: Arbeitsplatzverlust, Wirtschaftsumstrukturierung oder Bau von Windkraftanlagen in der Nähe bewohnter Gebiete oder in naturnahen Räumen. In einer materialistischen Perspektive ist die Konflikthaftigkeit zwischen kollektiver und individueller Rationalität begreifbar. In Strukturwandelprozessen beobachten wir gesellschaftliche Verwerfungen, die auf Beteiligung und Verfügung über gesellschaftliches Mehrprodukt sowie Streben nach Anerkennung und Teilhabe zurückführbar sind. Die theoretischen Diskussionen um eine radikale Demokratie (bspw. Mouffe 2007; Abensour 2012) zeigen in Verbindung mit soziologischen Forschungen in Strukturwandelregionen (Dörre 2020; Hochschild 2017) die Notwendigkeit einer konkreten und materiell rückgebundenen Beteiligung aller, um eine autoritäre Auflösung der gesellschaftlichen Konflikthaftigkeit zu vermeiden (Eribon 2016; Löwenthal 1990; Rensmann 2020). Theoretisch ist damit der Weg zu einer Konzeption demokratischer Mitbestimmung eröffnet, die auf robuste institutionelle und rechtstaatliche Grundlagen baut und sowohl lokal, kommunal, nationalstaatlich und global gekoppelt ist als auch über Ressourcenverteilung tatsächlich verfügen kann (Neumann 1978 [1931]). Im Kollegverbund wird diese institutionenübergreifende Perspektive mit Fragen zur innerbetrieblichen Mitbestimmung und zu Diversität sowie Nachhaltigkeit in der Unternehmensführung konfrontiert.

    Drei Menschen sitzen vor der Uni auf der WieseBild: Fiona Körner_HerbstCampus cc

    Nachhaltigkeitsgrundsätze für die Zukunft

    Die Menschenrechte heute dürfen nicht kurzfristig auf Kosten zukünftiger Verwirklichungschancen von Menschenrechten und ihren natürlichen Bedingungen realisiert werden, wie das BVerfG in seiner Klimaschutz-Entscheidung ausführt (BVerfG 24.03.2021, 1 BvR 2656/18 u. a.). Die Corona-Krise hat Mängel in der nachhaltigen Krisenvorsorge in der Arbeitswelt und im Gesundheits- sowie im Bildungswesen aufgezeigt (Welti 2020). Die Übertragung von  Nachhaltigkeitsgrundsätzen auf Sozialpolitik und soziale Rechte ist bereits heute kontrovers in der Renten-, Gesundheits- und Grundsicherungspolitik. Hier ist soziale Nachhaltigkeit ein strittiger Diskussionspunkt. Wir wollen mit Forschung und mit Hilfe ökologischer und ökonomischer Erkenntnisse und Theorien aufklären, wie heutiges Handeln konkret mit welchen Mechanismen auf zukünftige Verwirklichungschancen wirkt. Hier ist zu differenzieren, inwieweit die intertemporale Dimension auf der irreversiblen Zerstörung von Lebensgrundlagen beruht (Klimaschutz), auf dem Aufbau zukünftig nützlicher Ressourcen (Bildung, soziale Infrastruktur) oder sich vor allem als spezifischer Verteilungsmechanismus darstellt (Rentenversicherung, Staatsverschuldung).

    SDG 16 bedarf insofern einer materiell begründeten Theorie rechtlicher und politischer Anforderungen an intertemporal und langfristig wirksames Institutionenhandeln (Aust 2017; Ekardt 2011; Laskowski 2010; Welti 2004). Rechtlich gesehen betrachten wir insbesondere Recht und Pflicht der staatlichen und überstaatlichen Ebenen zur Zukunftsplanung über längere Zeithorizonte (Fischer-Lescano/Möller 2012), die sich auf das Handeln von Unternehmen auswirken (produkt-, energie- und prozessbezogenes Umweltrecht), knappe Güter wie Boden und Wasser verteilen und bewirtschaften (Raum-, Stadt- und Landschaftsplanung) und künftige Aufwendungen für soziale Zwecke determinieren (Sozialversicherung, soziale Infrastrukturplanung). Die Notwendigkeit längerfristiger nachhaltiger Planung ist mit demokratischen und partizipativen Grundsätzen vereinbar zu machen (Fisahn 2002; Mathis 2017).

    Politikwissenschaftlich sind die Barrieren und nach Hegemonie strebenden Gegenkräfte zu Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung und Inklusion zu untersuchen. Die Institutionen des liberalen und sozialen Rechtsstaats haben sich als verletzlich gegenüber privilegierten Interessen, populistischen und autoritären Ideologien erwiesen (Schulz 2019). Friedliche und inklusive Gesellschaften und ihre Institutionen haben Feinde, deren Interessen und Strategien es zu entschlüsseln gilt, wenn SDG 16 realisiert werden soll. Effektive Institutionen sind solche, deren Strukturen und Handlungsgrundsätze– etwa durch erweiterte Partizipation wie Mitbestimmung und Selbstverwaltung und durch Einbeziehung wissenschaftlichen Sachverstandes – resilienter gegen undemokratische und autoritäre Strömungen sind. Insoweit muss das Prinzip der hierarchischen Staatsverwaltung überprüft und ergänzt werden. Hier knüpfen wir z. B. an die soziale Selbstverwaltung der Versicherten in Sozialversicherungen an oder an die gewerkschaftliche Diskussion über Wirtschaftsdemokratie von der betrieblichen bis zur gesellschaftlichen Ebene sowie an Institutionen des Verbraucherschutzes mit ökologischen und sozialen Zielen und die Frage nach konstruktiven und destruktiven Wirkungen von Digitalisierung auf die Institutionen. Wir fragen nach den Möglichkeiten der selbstwirksamen Gestaltung der Lebensumstände und demokratischer Teilhabe in Transformationsprozessen bzw. nach ihrer demokratisch-inklusiven Gestaltung ohne schlichte Alibiveranstaltungen zu sein. Beispiele aus der Vergangenheit und im internationalen Vergleich gibt es viele: Strukturwandel in Ostdeutschland, im Mitteldeutschen Braunkohlerevier und im Ruhrgebiet, Elektromobilität im Spannungsfeld von Beschäftigtenrechten, kommunaler Wasserversorgung und Arbeitsplatzschaffung in Zukunftsbranchen (Tesla-Gigafactory in Grünheide) u. v. m.

    Promotionsprojekte in den Fächern Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft könnten beispielhaft folgende Themen haben:

    Arbeiten mit theoretischer Ausrichtung auf Grundsatzfragen

    • Die Sicherung zukünftiger Grund- und Menschenrechte als Begründung heutiger Grundrechtsschranken
    • Nachhaltigkeit durch Partizipation – Spannungen und theoretische Grundlagen
    • Autoritarismus als Reaktion auf Transformation: Kommt es zu reaktionären Bündnissen privilegierter und unterprivilegierter Schichten?
    • Alterssicherung, Generationenvertrag und Nachhaltigkeit

    Empirische Forschung mit Blick auf institutionelle Praxis und Recht sowie seine Umsetzung

    • Ökologische Transformation als Gegenstand der betrieblichen Mitbestimmung und der Unternehmensmitbestimmung
    • Soziale und ökologische Nachhaltigkeit als Zweck und Gegenstand der sozialen Selbstverwaltung in der Sozialversicherung
    • Die SDG in der Gesetzgebung des Bundes am Beispiel des Arbeits- und Wirtschaftsrechts
    • Ist die Finanzierung der Kommunen auf nachhaltige Aufgabenerfüllung angelegt, insbesondere im sozialen und ökologischen Strukturwandel?

    Arbeiten mit partizipativ-methodischer Konzeption

    • Neue Impulse für Nachhaltigkeit durch neue partizipative Akteure am Beispiel von Schwerbehindertenvertretungen im Betrieb und Behindertenverbänden in der Gesundheitspolitik
    • Wie trägt verbandlicher Rechtsschutz zu inklusiven Institutionen bei?
    • Schaffen und verändern internationale Menschenrechtspakte und die SDG Bewusstsein für Partizipation?
    • Kommunen in der Transformation – partizipatorische Regionalentwicklung in strukturschwachen Regionen

    Literatur

    Abensour, M. 2012: Demokratie gegen den Staat. Marx und das machiavellische Moment. Frankfurt a. M.

    Aust, H. 2017: Das Recht der globalen Stadt, Tübingen.

    Dörre, K. 2020: In der Warteschlange, Arbeiter*innen und die radikale Rechte. Münster.

    Ekardt, F.  2011: Theorie der Nachhaltigkeit: Baden-Baden

    Eribon, D. 2016: Rückkehr nach Reims. Frankfurt a. M.

    Fisahn, A. 2002: Demokratie und Öffentlichkeitsbeteiligung. Tübingen.

    Fischer-Lescano, A./Möller, K. 2012: Soziale Rechtspolitik in Europa.

    Hochschild, A. R. 2017: Fremd in ihrem Land. Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten. Frankfurt a. M.

    Laskowski, S. 2010: Das Menschenrecht auf Wasser. Tübingen.

    Löwenthal, L. 1990. Falsche Propheten. Studien zum Autoritarismus. Schriften 3. Frankfurt a. M.

    Mathis, K. 2017: Nachhaltige Entwicklung und Generationengerechtigkeit. Tübvingen.

    Mouffe, C. 2007: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion. Frankfurt a. M.

    Neumann, F. L. [1931] 1978: Über die Voraussetzungen und den Rechtsbegriff einer Wirtschaftsverfassung. In: Söllner, A. [Hg.]: Franz L. Neumann. Wirtschaft, Staat, Demokratie. Aufsätze 1930-1954. Frankfurt a. M., S.76-102.

    Rensmann, L. 2020: Die Rückkehr der falschen Propheten. Leo Löwenthals Beitrag zu einer kritischen Theorie des autoritären Populismus der Gegenwart. In: Henkelmann, K/Jäckel, C./Stahl, A./Wünsch, N./Zopes, B. [Hg.]: Konformistische Rebellen. Zur Aktualität des autoritären Charakters. Berlin. S. 21-52.

    Ottmann, J. 2020: Solidarität und Recht im Sozialstaat in: Druschel, J./Goldbach, N./Paulmann, F./Vestena, C. Interdisziplinäre Perspektiven auf Soziale Menschenrechte, Baden-Baden, 415-424.

    Schulz, S. 2019: Die freiheitliche demokratische Grundordnung – Ergebnis und Folgen eines historisch-politischen Prozesses. Weilerswist.

    Welti, F. 2020: Sozial- und Gesundheitspolitik: Lernen aus Erfahrungen. Das deutsche Gesundheitswesen im Lichte der Corona-Krise. In: Soziale Sicherheit 4.2020, S. 124-128.

    --- 2015: Soziale Menschenrechte in Wissenschaft und Praxis. In: Banafsche, M./Platzer, H.-W. Soziale Menschenrechte und Arbeit – multidisziplinäre Perspektiven, Baden-Baden, 17-32.

    --- 2004: Rechtliche Aspekte von Generationengerechtigkeit. In: Kritische Justiz (KJ) 3.2004, 255-277.