22.06.2023 | Porträts und Geschichten

Hier wird das Netz der Zukunft erprobt

Wie man Wechselrichtern „virtuelle Schwungmasse“ verpasst – und welche Rolle ein roter Knopf dabei spielt

Bild: Andreas Fischer
Mitarbeiter Nils Wiese.

Die Zukunft der Energienetze steckt in einem Schaltschrank. Nils Wiese öffnet eine graue Tür, dahinter klemmen, sauber in Reihen geordnet, mehrere programmierbare Laborwechselrichter; im echten Netz speisen Wechselrichter den Strom von Windrädern oder Fotovoltaik Anlagen ein. Künftig sollen Millionen dieser Kleingeräte Europas Stromnetz stabil halten. Wie das klappen kann – im e²n Labor erproben sie es. „e²n“ steht für „Energiemanagement und Betrieb elektrischer Netze“, das Fachgebiet von Prof. Dr. Ing. Martin Braun, Wieses Chef.

Martin Braun ist zugleich Bereichsleiter im Fraunhofer Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik IEE und Mitglied im Beirat der Bundesregierung „Roadmap Systemstabilität“ und einer, dem man zuhört, wenn es um die Zukunft der Energieversorgung geht. Atomausstieg, Ausbau der Erneuerbaren, Wetter kapriolen, E Mobilität, Digitalisierung, Gefahr von Cyber Angriffen – es kommt eine Menge zu auf unser Energienetz. Das Labor in der Wilhelmshöher Allee soll helfen, wenigstens eines der Probleme zu lösen. Dabei kommt es denkbar unscheinbar daher. Im hinteren Teil einer großen Versuchshalle haben die e²n Mitarbeiter ein paar Schaltschränke zusammengeschoben, vorne steht ein Schreibtisch mit zwei Monitoren, hinten hängen Lampen an einer Wand – insgesamt geht es um viel leicht 20 Quadratmeter. Es blinkt nichts, es raucht nichts, manchmal brummt eine längliche Maschine im Zentrum des Arrangements, die aussieht wie ein Kanonenrohr auf einem Piratenschiff. „Eine Synchronmaschine“, sagt Braun. „Das ist das alte Netz."

Bild: Andreas Fischer
Prof. Dr. Martin Braun und sein Mitarbeiter Nils Wiese (hinten an der Synchronmaschine).

Synchronmaschinen schließen Atom und Kohlekraftwerke, Gas und Wasserkraftwerke ans Netz an. Und sie dienen der Netz-Stabilisierung. „Man kann sich das vorstellen wie bei einem Radfahrer“, beschreibt Braun. Fallen viele Stromabnehmer weg (beispielsweise nachts), hat es der Radfahrer so leicht, als würde er bergab radeln. Dann kann er schneller treten, beziehungsweise: Die Synchronmaschinen drehen dann etwas schneller, Kraftwerke können heruntergefahren werden. Umgekehrt: Wird in den Haushalten kurz vor zwölf der Braten in den Ofen geschoben, dann geht es für den Radfahrer bergauf und er tritt langsamer, beziehungsweise: Die Synchronmaschinen drehen dann etwas langsamer und die Kraftwerke müssen mehr Leistung liefern. Die Maschinen haben aber noch einen Vorteil, sie dämpfen durch die Massenträgheit ihrer Rotoren plötzliche Schwankungen ab (sogenannte „Momentanreserve“). Damit halten sie die Netzfrequenz stabil, die im Europäischen Verbundnetzbei ziemlich genau 50 Hertz liegt.

Doch was, wenn Atom, Kohle und irgend wann auch das Gas nicht mehr ins Netz gehen? Wenn nach der Energiewende lauter kleine, dezentrale, umweltfreundliche Anlagen den Strom liefern? Dann müssen die Wechselrichter diese Aufgabe übernehmen. Die Kleingeräte können bereits die Einspeisung regulieren, also PV Anlagen zu- oder wegschalten. Sie gleichen aber noch keine Frequenz Schwankungen aus. Das muss man ihnen erst beibringen – die Fachleute sprechen davon, dass sie eine „virtuelle Schwungmasse“ bekommen. Braun und sein Team haben in einigen Simulationen bereits nachgewiesen, dass ein Netz mit viel virtueller Schwungmasse stabil sein kann. Doch wie genau die Geräte programmiert werden sollten, wie sie miteinander verbunden sein und wie sie sich unter Belastung verhalten sollen – das wird im e²n Labor erprobt.

Bild: Andreas Fischer.
Blick in einen Schaltschrank.

Dafür haben sie das alte Netz – das Kanonenrohr – mit dem Netz der Zukunft – den Wechselrichtern im Schaltschrank – verbunden. Ein sogenannter Lastenschrank simuliert die Strom-Abnehmer. Immer und immer wieder programmieren sie die Wechselrichter ein wenig anders und testen dann das System. Eine entscheidende Rolle spielt dabei ein roter Knopf, den Wiese auf der Rückseite der Anlage zeigt. Unzählige Male hat er ihn bereits betätigt. Einmal drücken, und das Netz gerät unter Stress – je nach Versuchseinstellung Überlast oder Unterlast, Kurzschluss, Netzauftrennung. Wie sich das System dann verhält, ob es hält oder zusammenbricht, wird ausgewertet. So nähern sie sich Schritt für Schritt den optimalen Einstellungen. Geht die Rechnung auf, könnten Wechselrichter in Zukunft beispielsweise E-Autos als Stabilitätsfaktor ans Netz anschließen. Die Fahrzeuge wären dann nicht nur Zwischenspeicher für überschüssigen Strom, sondern zusätzliche „Dämpfer“, um die Frequenz zu stabilisieren. In jedem Fall gilt: Die Versuche in der Wilhelmshöher Allee tragen dazu bei, für uns alle die Energieversorgung sicherer zu machen.

Dieser Beitrag erschien im Universitäts-Magazin publik 2023/2. Text: Sebastian Mense