Weniger Platz für den Chagga Home Garden
Das Bild des schneebedeckten Kilimandscharo gehört zu den Ikonen Afrikas: ein weißbemützter Gipfel, der sich über die Savanne erhebt, gerne mit ein paar Elefanten oder Giraffen im Vordergrund. Über dem Dunst erscheint das Bergmassiv am Horizont mächtig und unveränderbar. Doch das Gegenteil ist der Fall. Klima, Biodiversität, Landwirtschaft, Bevölkerung – auf vielen Ebenen ändern sich gerade die Verhältnisse an den Hängen der höchsten Erhebung Afrikas. Die Wissenschaft spricht von einem sozial-ökologischen System, das in Bewegung ist. Wie dramatisch, welchen Einfluss dabei der Mensch hat und welche Folgen der Mensch trägt, das erforscht ein Team um Prof. Dr. Andreas Thiel vom Fachgebiet Internationale Agrarpolitik.
Thiel und sein Team sind unzählige Male in den Norden Tansanias gereist. Dort, unmittelbar an der Grenze zu Kenia, liegt der Kilimandscharo. „Seine Hänge sind wie ein Stück tropischer Regenwald inmitten der weiten trockenen Savannen des Flachlands“, beschreibt Thiel. „Es ist grün, neblig, dichtbesiedelt. Die Menschen, die am Berg wohnen, die Chagga, wirken stolz, geschäftstüchtig und traditionsbewusst. Ihre Kultur ist mit dem Berg eng verbunden.“
Die Forschungsgruppe untersucht insbesondere die fruchtbaren und dichtbesiedelten Südhänge des Bergmassivs. Seit jeher nutzt die Bevölkerung dort das Wasser, das der Berg fängt und das der Gletscher abgibt, um die Böden zu bestellen. „Wie ein Spinnennetz“, beschreibt der Agrarökonom, „ziehen sich Bewässerungsgräben die Flanken hinunter.“ Doch das Klima ändert sich, Niederschläge werden unregelmäßiger, die Temperaturen höher, der Gletscher auf dem Gipfel schmilzt. Das sind nicht die einzigen Veränderungen: Auch der Freihandel wirkt sich auf die Landschaft aus, mancher Bauer, der früher eine Reihe von Nutzpflanzen für den lokalen Bedarf angebaut hat, zieht heute Avocados für den Weltmarkt. Der Kaffee-Export organisiert sich neu. Welchen Einfluss haben Institutionen, also formale und informelle Regeln wie Verfügungs- und Erbrechte oder die Regulierung des Handels, auf diese Entwicklungen? Das ist der Fokus von Thiels Projektteam. In den vergangenen Jahren haben sie einige Erkenntnisse gewonnen.
Das Kasseler Projekt ist Teil einer DFG-Forschungsgruppe, die zahlreiche Disziplinen und Forschungseinrichtungen vereint. Während sich das Kasseler Teilprojekt auf den Einfluss von Institutionen und anderen Formen von „Governance“ auf Landnutzung, Gesellschaft und Natur konzentriert, spannt das Gesamtprojekt den Bogen weiter: Welchen Wert hat die Natur für das Wohlergehen der Menschen? Wie lässt sich der Wert von Landwirtschaft, Biodiversität, Tourismusmagneten beziffern? Die Forscherinnen und Forscher hoffen auf Ergebnisse, die sich auf andere Weltregionen übertragen lassen. Doch das ist nicht einfach. „Die Schwierigkeit liegt in den Besonderheiten, die jede Weltgegend hat“, gibt Thiel zu bedenken. Kultur, lokale Wirtschaftsmodelle, klimatische Verhältnisse, all das ist nicht leicht von einer Region auf die andere zu transferieren. Am Ende soll aber auf jeden Fall eines stehen: ein sozial-ökologisches Modell des Systems Kilimandscharo, das die Rolle von Institutionen, Governance und Macht und ganz generell die Realität dieser Zeit abbildet – jenseits von touristisch vermarktbarer Savannen-Romantik.
Dieser Beitrag erschien im Universitäts-Magazin publik 2023/4. Text: Sebastian Mense