Begrenzte Freiheit
Von Beate Hentschel
Am 16. Juli 2024 hat die deutsche Innenministerin Nancy Faeser das rechtsextreme „Compact“-Magazins verboten. Vorerst hat das Bundesverwaltungsgericht dieses Verbot wieder außer Kraft gesetzt. Jetzt werden sich die Juristen eingehend mit der Frage befassen, ob das Verbot Bestand hat und die Beweisführung des Ministeriums tragfähig ist. Oder haben wir es etwa im Deutschland des 21. Jahrhunderts mit einem Fall unerlaubter staatlicher Zensur zu tun? Andererseits: ist das Verbot nicht vielmehr Ausdruck einer wehrhaften Demokratie? Prof. Dr. Nikola Roßbach, Leiterin des Fachgebiets „Neuere deutsche Literaturwissenschaft" am Institut für Germanistik der Universität Kassel, treibt das Thema Zensur schon seit der documenta 14 um. Jetzt hat sie ein umfassendes Handbuch zu den Mechanismen und Praktiken der Zensur veröffentlicht, das weit über die Literatur hinausgeht. Publik sprach mit ihr.
Die Diskussion über das Verbot des „Compact“-Magazins berührt grundsätzliche Fragen zur Pressefreiheit in Deutschland, garantiert durch Artikel 5 des Grundgesetzes. Es schützt die Freiheit der Berichterstattung durch die Presse und andere Medien. Folgerichtig meldete sich nach dem Verbot der Medienverband der freien Presse (MVFP) mit einer Pressemitteilung zu Wort und „bewertet das Verbot eines Presseverlages durch das Innenministerium als einen schwerwiegenden Eingriff in die durch das Grundgesetz geschützte Pressefreiheit“.
An diesem aktuellen Beispiel sieht man, dass das Thema Zensur hochaktuell ist – auf der ganzen Welt und nicht nur in totalitären Staaten. Denn, so Nikola Roßbach: „Gerade erleben wir einen gewaltigen backlash, sehen in vielen Ländern autoritäre Strukturen erstarken bis hin zur Entstehung diktatorischer Regime“. Wer dagegen in Demokratien mit funktionierender Gewaltenteilung Publikationen verbieten will, muss sehr sorgfältig zwischen der Notwendigkeit, Demokratie und öffentliche Sicherheit zu schützen, und dem Recht auf freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit abwägen. In einem Rechtsstaat müssen solche Entscheidungen transparent und gerichtsfest getroffen werden, um die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit zu wahren. Vielleicht werden die Juristinnen und Juristen, die den Fall „Compact“ jetzt zu bewerten haben – denn die Compact-Macher haben erwartungsgemäß Klage vor dem Bundesverwaltungsgericht gegen das Verbot eingereicht – zur Vorbereitung auch das neue Handbuch „Zensur“ von Nikola Roßbach zur Hand nehmen, um sich umfassend vorzubereiten. Man kann es ihnen nur raten, denn das Thema ist vielschichtig.
Erstmals werden interdisziplinäre, transhistorische und globale Perspektiven auf Zensur umfassend dargestellt
Auf über 600 Seiten wird der Stand der Forschung umfassend dargestellt. Roßbach hat dazu Kolleginnen und Kollegen überwiegend aus dem deutschsprachigen Raum gewinnen können, die erstmals eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme zum Phänomen Zensur und seiner Erforschung vorlegen, die interdisziplinäre, transhistorische und globale Perspektiven auf Zensur leistet. Das Handbuch vermittelt Forscherinnen und Forschern, Studierenden und allen anderen Interessierten einen guten Überblick über die breite Diskussion zum Thema Zensur in der Literatur, mündlichen und schriftlichen Medien sowie der kulturellen Praxis. Im deutschsprachigen Raum, so Roßbach, gibt es eine starke Tradition, sich mit dem Phänomen Zensur zu befassen. Sie freut sich, dass es ihr gelungen ist, viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für das Projekt zu gewinnen. „Gemeinsam repräsentieren sie die wichtigen wissenschaftlichen Strömungen in der Auseinandersetzung mit dem Thema Zensur und decken ein breites Feld an Themen ab“.
Das Handbuch ist in fünf Kapitel gegliedert: „Begriffliche Grundlagen“ der Zensur und ihrer Funktionsweise und Wirkung bilden den Auftakt, „Akteure und Handlungsfelder“ umreißen die Kontexte, in denen Zensur stattfindet – von Politik über Religion, Wirtschaft, Kunst und Medien bis zum Thema Recht. Dass Zensur aber keinesfalls ein neues Phänomen ist, wird in Kapitel III behandelt, in dem Epochen von der Antike bis zum 21. Jahrhundert betrachtet werden. Nach der „(fast) totalen Zensur in der Moderne“, wie die Autoren Sascha Feuchert und Jennifer Ehrhardt ihren Beitrag zu Zensur im 20. Jahrhundert betiteln, widmet sich der letzte Epochen-Artikel zum 21. Jahrhundert von Stephen Packard der Frage, wie sich Zensur in unserer digitalen Kommunikation manifestiert. Roßbach: „Algorithmen üben auch Zensur aus – mittelbare, informelle Zensur. Wir bekommen nicht alle Informationen wertfrei ausgespielt, sondern erhalten gefilterte News oder sogar Fake News. Und wir können die Algorithmen, nach denen dies geschieht, weder nachvollziehen noch beeinflussen“.
Rederecht und damit Deutungshoheiten, Einfluss und Macht sind ungleich verteilt – darüber gab und gibt es in jeder Gesellschaft Auseinandersetzungen. Wer darf sprechen? Wer spricht in welcher Position? Wer wird gehört? Wer gibt den Ton an? Wer verschafft sich mit Meinungsäußerungen öffentliche Präsenz? Das sind Fragen, die unmittelbar Zensurpraktiken und Restriktionsbemühungen betreffen.
Der Sammelband bearbeitet umfassend die historischen Dimensionen der Zensur, in denen es lt. Roßbach immer wieder „Schübe“ gibt, die das Thema vorangetrieben haben. Sie nennt als prägnante historische „Schübe“ beispielsweise die Erfindung der Schrift sowie den Buchdruck mit beweglichen Lettern durch Gutenberg im 15. Jahrhundert; eine technische Innovation, die die kostengünstige Vervielfältigung von religiösen und politischen Flugschriften und Büchern ermöglichte. „Gerade die Reformation mit der Übersetzung der Bibel ins Deutsche und den vielen Flugschriften provozierte einen solchen Zensurschub. Denn all das führte die kirchlichen und die weltlichen Herrscher dazu, Maßnahmen gegen zu viel Wissen und zu viel eigenes Denken zu ergreifen, restriktiv in den freien Fluss der Information einzugreifen und Kommunikation zu kontrollieren.“ Ein eindrucksvolles Beispiel staatlicher Zensur stellt auch Österreich im 19. Jahrhundert dar: Dort installierte Fürst Metternich als Staatskanzler im Kaiserreich einen beispiellosen Zensur- und Spitzelapparat (das Metternichsche System), um die royale Macht europäischer Herrscherhäuser zu erhalten und liberale Tendenzen zu unterdrücken und zu bekämpfen.
Die Geschichte zeige, so Roßbach, dass „Kommunikation ohne ihre Kontrolle nicht zu denken ist“. Den absoluten Höhepunkt bürokratisch-professioneller Staatszensur stellen dabei natürlich die totalitären rechten und linken Regime der Moderne dar: „Das 20te Jahrhundert ist das Zeitalter der totalen Zensur.“
Jeder kontrolliert jeden: Chinas 50-Cent-Armee
In einem weiteren Kapitel (IV.) wird deshalb der zeitlichen eine räumlich-globale Perspektive hinzugefügt und das Zensurgeschehen auf den Kontinenten Afrika, Asien, Australien, Mittel- und Südamerika, Nordamerika sowie Ost- und Westeuropa betrachtet. Sigrun Abels, Jessica Bauer und Juri Häbler haben über die zensorischen Mechanismen in der Volksrepublik China geschrieben. „Als allumfassende totalitäre Staatsmacht setzt das chinesische Regime natürlich auf die umfassende Kontrolle von Kommunikation, unterdrückt Stimmen und zensiert das Volk mithilfe digitaler Technik immer restriktiver. Die chinesische Staatmacht beschäftigt beispielsweise Tausende menschlicher Zensoren für das Internet. Sie werden im Volksmund die ‚50-Cent-Armee‘ genannt. Beamte, die unliebsame Beiträge oder Kommentare melden, erhalten dafür Geld vom Staat“, erläutert Roßbach.
Subversive, informelle Zensur im Zeitalter den Internets
Was ist eigentlich Zensur? Es gibt die formelle Zensur. Davon spricht man bei einer „sanktionsbewährten Kommunikationskontrolle“, die von Institutionen ausgeht. Menschen müssen handfeste Sanktionen befürchten, wenn sie gegen die Meinung der Herrschenden anschreiben oder Gegenrede halten. In Deutschland hat die Erfahrung mit dem Nationalsozialismus und dem Totalitarismus dazu geführt, dass Artikel 5 des Grundgesetzes uns vor allem vor dem staatlichen Eingriff in unser Grundrecht auf Meinungsfreiheit schützen soll.
Aber in der aktuellen Debatte ist es eher die informelle, nicht die staatliche Zensur, über die gestritten wird. Es geht um subversive Mechanismen, die ein Klima bereiten, in dem wir vermeintlich nicht mehr unsere Meinung frei äußern dürfen. „Zu diesem aktuellen zensurpolemischen Diskurs habe ich einen sehr guten Beitrag von Matthias N. Lorenz über „Das Cancel Culture-Narrativ“ in das Handbuch aufnehmen können. Lorenz ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik an der Leibniz-Universität Hannover. Er beschreibt sehr gut, wie Zensur als polemisierter Kampfbegriff genutzt wird – als Kampfbegriff in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um Macht und Meinungsfreiheit unter anderem bei den sogenannten neurechten politischen Strömungen“.
Abgesehen von solcher Zensurpolemik gibt es aber auch ‚echte‘ informelle Zensur, auch in demokratischen Rechtsstaaten wie Deutschland. Die Meinungsfreiheit wird hier zwar vom Grundgesetz garantiert. Aber, so Roßbach: „Unsere Grundrechte sind Abwehrrechte gegen den Staat, aber nicht gegen globale Techfirmen wie Twitter/X, Meta und Google. Dazu braucht es andere Eingriffe und das ist ein gesellschaftlicher Aushandlungsprozess mit beträchtlichem Konfliktpotenzial. Beispiel Hassrede: sollen X und Co. gesetzlich dazu gezwungen werden, die Posts auf ihren Plattformen zu zensieren? Wollen und können wir uns hier auf Standards als Gesellschaft verständigen? Meinungsfreiheit kann zu entfesseltem Hass führen, aber wo ist die Linie zu ziehen, bei der eingegriffen und gelöscht wird? Und wann beginnt ‚Overblocking‘ – also die übermäßige Löschung von Inhalten, die die Freiheit des Internets unterminieren würde? Die ersten Versuche, digitale Inhalte per Gesetz zu kontrollieren, gibt es seit einigen Jahren auf deutscher und europäischer Ebene; sie bewegen sich auf einem heiklen Grat zwischen Rechtsdurchsetzung und Freiheitsbeschränkung“.
Wir beobachten eine erhitzte Diskussion über Zensur und Meinungsfreiheit; politische Gegner speisen daraus eine Empörungskultur, die sich immer weiter hochschaukelt. Nikola Roßbach ordnet das so ein: „Bisher hat sich in der Regel die Mehrheitsmeinung Gehör verschafft. Aber zunehmend – vor allem durch Social Media – erobern sich kleinere Gruppen das Rederecht und beanspruchen Gehör. Denken Sie an Transmenschen oder Menschen verschiedener ethnischer Zugehörigkeiten. Das beunruhigt die Mehrheitsgesellschaft, die sich in Frage gestellt sieht und dann gerne von einer ‚Cancel Culture‘ spricht.“ Ebenso sind es aber auch antidemokratische Stimmen, die sich lautstark zu Wort melden, wie der eingangs erwähnte Fall von „Compact“ zeigt.
Selbstzensur als Mechanismus informeller Zensur
Ein verbreiteter Mechanismus informeller Zensur, der sich vor allem in totalitären Gesellschaften beobachten lässt, ist die Selbstzensur. „Man traut sich gar nicht, Dinge zu benennen und auszusprechen, von denen man gelernt hat und weiß, dass sie nicht geduldet werden.“ Aber auch in Demokratien gibt es Selbstzensur, also die Unterdrückung der eigenen Meinung durch empfundenen oder ausgeübten Druck von außen – und wenn es die Angst vor einem Shitstorm in den Sozialen Medien ist.
Auch solche informellen, subtilen Formen der Zensur sieht die Forschung durchaus als problematisch an: Sie können in formal-staatliche Restriktionen umkippen – man denke an George Orwells Animal Farm. Demokratien sind nie gefeit vor Zensur: In den USA gibt es in verschiedenen Bundesstaaten inzwischen wieder erhebliche Zensur, insbesondere bei Literatur an Schulen. So verbannen Schulbibliotheken unter dem Druck der „Moms for Liberty“-Bewegung Bücher von John Steinbeck, Toni Morrison oder Khled Hosseini, Magred Atwood und Isabel Allende aus den Schulen. In der Neuen Zürcher Zeitung war kürzlich von einer aktuellen Erhebung der „American Library Association“ zu lesen. Sie verzeichnet einen starken Anstieg von Zensurversuchen in den USA: Im Jahr 2023 stieg die Anzahl der zum Verbot vorgeschlagenen („challenged“) Bücher, verglichen mit 2022, um 92 Prozent.
Besonders haben die selbsternannten Zensorinnen und Zensoren es auf Texte aus der LGBTQ-Community abgesehen. Interessengruppen wie die „Moms for Liberty“ nehmen auch massiv Einfluss auf republikanische Politikerinnen und Politiker. Das US-Magazin Newsweek zitiert Tiffany Justice, Mitbegründerin von „Moms of Liberty“, so: „Wir haben nicht vor, irgendwelche Bücher zu verbieten.“ Und weiter: „Unsere Mütter sagen: Schreibt das Buch, veröffentlicht das Buch, druckt das Buch, verkauft das Buch, wo immer ihr es verkaufen wollt, aber stellt es nicht in eine öffentliche Schulbibliothek, wenn es explizit sexuelle Inhalte enthält.“ Dabei gehören die USA zu den Staaten, in denen die Meinungsfreiheit bereits seit 1789 in den Grundrechten festgeschrieben ist. Die Bill of Rights schreibt unveräußerliche Grundrechte für amerikanische Staatsbürger fest, darunter im ersten Artikel die Garantie von „Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und Recht auf Petitionen“.
Nikola Roßbach empfiehlt das Buch allen, die sich in Wissenschaft, Studium und Beruf oder aus allgemeinem Interesse mit dem Thema Zensur befassen möchten. Der interdisziplinäre Ansatz ist ihr neben einem internationalen und nicht eurozentristischen Blickwinkel besonders wichtig. „Es bin sehr zufrieden damit, dass ich für dieses Buchprojekt Kolleginnen und Kollegen aus so vielen Fachdisziplinen und Kontinenten begeistern konnte. Neben den Literaturwissenschaftlerinnen – also meiner eigenen Disziplin – habe ich Autorinnen und Autoren aus Geschichte, Medien, Religion, Recht und sogar Sinologie dazu holen können. Man erfährt viel über die Vergangenheit und Gegenwart von Zensur auf der ganzen Welt. Dabei geht es auch um aktuelle Kontroversen zu Identitätspolitik, Populismus und Verschwörungstheorien. Unser Kompendium ist eine Einladung an die Leserinnen und Leser zur vertieften Auseinandersetzung mit einem Thema, das uns noch lange beschäftigen wird.“
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Prof. Dr. Nikola Roßbach kam über ein künstlerisches Projekt zum Thema Zensur. Zur documenta 14 entstand auf dem Kasseler Friedrichsplatz die Großskulptur „The Parthenon of Books“ von Marta Minujin. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Prof. Dr. Florian Gassner (Vancouver, Kanada) übernahm Prof. Roßbach die wissenschaftliche Begleitung. Ein Team von Studierenden stellte Listen verbotener Bücher zusammen und sortierte die gespendeten Titel.
Aus dieser Projektarbeit entstand „Die Kasseler Liste – A Database of Censored Books“ (www.kasselerliste.com). Diese weltweit größte Datenbank verbotener Bücher umfasst bislang ca. 125 000 Items; sie integriert verschiedenen historische Indizes, Forschungsdatenbanken zur Zensur sowie Ergebnisse von Einzelrecherchen. Gemeinsam mit Gassner war Roßbach jüngst auch für das Literaturhaus München tätig. Beide übernahmen die Konzeption und wissenschaftliche Begleitung für die dortige Ausstellung „Verbotene Bücher“, die vom 28.10.2023 bis 4.2.2024 gezeigt wurde. Die Visualisierung des Themas Zensur stellte dabei eine neue reizvolle Herausforderung dar.
Zensur
Handbuch für Wissenschaft und Studium
Herausgegeben von Prof. Dr. Nikola Roßbach
Nomos, 2024, 611 Seiten, broschiert
ISBN 978-3-8487-8588-9