Kernaussagen zur rechtlichen Situation (Modul 3)
Empfehlungen zu Nachteilsausgleichen und Teilhabeleistungen im Studium aus rechtssoziologischer Sicht
Damit Studierende mit studienerschwerenden Erkrankungen ihr Studium erfolgreich durchführen können, sind barrierefreie Studienbedingungen sowie Unterstützung durch angemessene Vorkehrungen für sie unerlässlich. Ein Anspruch auf entsprechende Unterstützung ergibt sich aus Art. 24 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Sie dienen der Herstellung von materieller Gleichbehandlung.
Es sind aktive Maßnahmen geboten, um die tatsächliche Gleichberechtigung von Studierenden mit Beeinträchtigungen zu erreichen und ihnen die volle und gleichberechtigte Teilhabe im Studium zu ermöglichen. Dazu zählen auch Nachteilsausgleiche und Teilhabeleistungen, auf die Studierende nach dem deutschen Hochschulrecht bzw. nach dem SGB IX und Sozialrecht einen Rechtsanspruch haben.
Aus rechtssoziologischer Sicht empfiehlt es sich
- Studierende noch besser über die Möglichkeiten des Nachteilsausgleiches und Beratungsangeboten zu informieren;
- institutionelle Verantwortlichkeiten zu überdenken: insbesondere bei fortbestehenden Beziehungen birgt die Thematisierung von Recht Konfliktpotenzial. D.h. Studierende können daran gehindert werden ihre Rechte in Anspruch zu nehmen, aufgrund der Nähe zu und Abhängigkeit von Lehrenden und Professor:innen;
- über die Auswirkungen des beeinträchtigten Studierens verstärkt zu sensibilisieren;
- sowie eine zentralen Stelle zur Entscheidung über Nachteilsausgleiche zu schaffen.
Die vollständige Publikation von Janßen, C. & Welti, F. (2024): "Empfehlungen zu Nachteilsausgleichen und Teilhabeleistungen im Studium aus rechtssoziologischer Sicht" finden Sie unter der Rubrik "Vorträge und Publikationen".
Studieren mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Behinderungen: rechtliche Rahmenbedingungen und ausgewählte Rechtsprobleme
Die rechtliche Grundlage für Studierende mit Behinderungen ist breit gefächert. Unterschiedliche rechtliche Rahmenbedingungen liegen vor:
1. völkerrechtlicher Rahmen einer inklusiven Hochschulbildung:
- Die von Deutschland 2009 ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) steht für einen behindertenpolitischen Paradigmenwechsel. Ein Mensch mit "Beeinträchtigung" wird erst durch die Wechselwirkung mit umweltbedingten Barrieren "behindert".
- Die staatlichen Hochschulen sind als Körperschaften des öffentlichen Rechts unmittelbar an die UN-BRK gebunden und müssen die Vorgaben umsetzten.
- Bedeutende Grundsätze (Leitziele) des Übereinkommens sind die Nichtdiskriminierung (Art. 3 lit. b UN-BRK) und Zugänglichkeit (Art. 3 lit. f UN-BRK).
- Menschen mit Behinderung haben ein Recht auf diskriminierungsfreie und inklusive Bildung sowie auf einen gleichberechtigten Zugang zur Hochschulbildung (Art. 24 UN-BRK).
- Zwei Instrumente zur Umsetzung sind Barrierefreiheit und angemessene Vorkehrungen. Gemäß Art. 9 UN-BRK sind die Vertragsstaaten dazu verpflichtet, sämtliche Lebensbereiche proaktiv so zu gestalten, dass auch Menschen mit Behinderungen daran teilhaben können. Dies gilt auch für die Hochschulbildung und betrifft neben der räumlichen Gestaltung auch die Studien- und Prüfungsbedingungen. Sind bestimmte Bereiche für einzelne Personen (noch) nicht barrierefrei zugänglich, sind angemessene Vorkehrungen zu treffen.
- Angemessene Vorkehrungen sind Teil des Diskriminierungsverbotes (Art. 5 Abs. 2 UN-BRK). Hierdurch kommt zum Ausdruck, dass eine Benachteiligung nicht nur durch aktive Maßnahmen, sondern auch durch ein Unterlassen zustande kommen kann.
- Das Recht auf inklusive Bildung und angemessene Vorkehrungen sind durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) auch Bestandteile des europäischen Menschenrechtsschutzes. Es sind angemessene Vorkehrungen durch die Vertragsstaaten zu treffen. Das Diskriminierungsverbot gemäß Art. 14 EMRK ist im Sinne der UN-BRK auszulegen.
2. verfassungsrechtlicher Rahmen:
- Es gibt kein explizites Recht auf Bildung im Grundgesetz und in der hessischen Verfassung, allerdings deckt Art. 12 Abs. 1 S.1 GG wesentliche Teile des Rechts auf Bildung ab.
- Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG verbietet jede Benachteiligung aufgrund von Behinderung und gilt als wichtiger verfassungsrechtlicher Maßstab zur diskriminierungsfreien Teilhabe von Menschen mit Behinderung an Hochschulen. Neben der abwehrrechtlichen Dimension umfasst Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG auch einen Förderauftrag an den Staat, auf die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen hinzuwirken.
- Aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG wird daraus abgeleitet sowie das Bestehen eines Anspruches auf Nachteilsausgleiche.
- Lediglich die Ausgestaltung der Nachteilsausgleiche liegt im Ermessen der Prüfungsbehörden, nicht aber die Frage, ob überhaupt ein Nachteilsausgleich gewährt wird. Behinderungsbedingte Nachteile müssen in Prüfungen angemessen kompensiert werden.
3. hochschul- und prüfungsrechtlicher Rahmen:
- umfasst hochschulinterne Regelungen sowie die, auf Bundes (Hochschulrahmengesetz)- und Landesebene (Landeshochschulgesetz).
- Regelungsbefugnisse liegen seit 2006 bei den einzelnen Ländern.
- Auf Landesebene gib es nur wenige Regelungen für Studierende mit Behinderungen. Das Hessische Hochschulgesetz beinhaltet seit 2021 explizit die Barrierefreiheit, Integration und Inklusion als Ziele der Hochschulen.
- Die hochschulrechtlichen Regelungen zum Nachteilsausgleich sind zentral für die Studierenden. Gemäß § 25 Abs. 3 S. 1 Hessisches Hochschulgesetz (HessHG) müssen Prüfungsordnungen Nachteilsausgleich für Studierende vorsehen, die aufgrund ihrer Behinderung oder Erkrankung nicht oder nur erschwert an der eigentlichen Prüfungsform teilnehmen können. Studierende mit Behinderung sollen gleichberechtigt am Studium teilhaben können.
- Kritik an der bisherigen verwaltungsrechtlichen Rechtssprechungslinie zu den Nachteilsausgleichen, da u.a. Studierende mit nicht sichtbaren Beeinträchtigungen benachteiligt werden. Es wird an die Rechtsprechung des BVerwG aus dem Jahr 1985 angeknüpft, wonach ein „persönlichkeitsbedingtes Dauerleiden“ nicht ausgleichsfähig und damit keinem Nachteilsausgleich zugänglich sei. Die Gerichte gehen z.T. davon aus, dass vor allem psychische Erkrankungen die Leistungsfähigkeit einschränken. Ein Nachteilsausgleich komme nur in Betracht, wenn lediglich die Darstellung der Leistungsfähigkeit eingeschränkt sei.
4. Behindertengleichstellungsrecht (BGG):
- Die Hochschulen der Länder sind an die Landesbehindertengleichstellungsgesetze gebunden.
- Das Hessische Behinderten-Gleichstellungsgesetz (HessBGG) hat zum Ziel, unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze der UN-BRK die Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen zu beseitigen und zu verhindern sowie die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Leben in der Gesellschaft zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen (§ 1 S. 1 HessBGG).
- Um diese Ziele zu erreichen, umfasst das HessBGG ein Benachteiligungsverbot (§ 9 Abs. 2 HessBGG) und verpflichtet zur Herstellung von Barrierefreiheit. Der Benachteiligungsbegriff ist im Sinne der UN-BRK zu verstehen. Daher ist auch die Versagung von angemessenen Vorkehrungen eine Benachteiligung (§ 4 Abs. 1 Nr. 3 HessBGG)
- Laut Literatur ist die geforderte Barrierefreiheit an Hochschulen noch nicht selbstverständlich. Es existieren Umsetzungsdefizite u.a. in Bereichen der IT. Gebärrdensprachdolmetscher*innen sind nicht flächendeckend verfügbar und benötigen für die Termine eine lange Vorlaufzeit.
5. Leistungen zur Teilhabe:
- Auch im SGB IX sind Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe für Studierende mit Behinderung vorgesehen. Neben Leistungen, die die Durchführung des Studiums unterstützen sollen, existiert auch eine Vielzahl an Leistungen, durch die flankierende Bedarfe im Alltag abgedeckt werden (z.B. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder Leistungen zur sozialen Teilhabe).
- Leistungen zur Teilhabe an Bildung werden meistens durch Träger der Eingliederungshilfe (§ 6 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX) geleistet.
- Ist die endgültige Eingliederung in den Arbeitsmarkt Ziel des Studiums, ist nach der Rechtsprechung die Bundesagentur für Arbeit (BA) vorrangig zuständig. Assistenzleistungen im Studium sind nicht näher konkretisierte sonstige Hilfen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben (§ 49 Abs. 3 Nr. 7 SGB IX).
- Die BA hat diesbezüglich eine andere Auffassung und sieht die Vorrangigkeit anderer Rehabilitations-Träger im Rahmen der Leistungen zur Teilhabe an Bildung. Wünschenswert ist hier eine gesetzliche Klarstellung und das Schaffen von Rechtsicherheit.
- Zuständigkeitskonflikte dürfen nicht zulasten der Studierenden ausgetragen werden. § 16 SGB IX sieht für den Fall, dass ein Rehabilitationsträger leistet, obwohl er eigentlich nicht zuständig ist, im Nachhinein Erstattungsmöglichkeiten vor.
- Hilfsmittel werden vorrangig durch die Krankenkassen als Leistungen zur medizinischen Rehabilitation erbracht, wenn das Hilfsmittel zum Ausgleich der Behinderung im gesamten Alltag des Menschen mit Behinderung dient („Grundbedürfnis des täglichen Lebens“).
6. Sicherung des Lebensunterhalts während des Studiums:
- Studierende mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen können, wie andere Studierende auch, Anspruch auf BAföG haben. Entscheidend ist in erster Linie die Einkommens- und Vermögenssituation des Auszubildenden, des*der Ehegatt*in oder Lebenspartner*in und der Eltern (§ 11 Abs. 2 bis 4 i.V.m. §§ 21 ff. BAföG).
- Im BAföG werden behinderungsbedingte Mehrbedarfe anders als im SGB II (Bürgergeld) und SGB XII (Sozialhilfe) nicht berücksichtigt.
- „Aufstockende“ SGB II-Leistungen sind für Studierende grundsätzlich ausgeschlossen (§ 7 Abs. 5 SGB II) und kommen nur in den in § 27 Abs. 2 und 3 SGB II in Betracht.
- Wird das Studium krankheitsbedingt unterbrochen, lässt sich der*die Studierende beurlauben oder studiert in Teilzeit, besteht Anspruch auf Bürgergeld, wenn die entsprechenden Voraussetzungen (§ 7 Abs. 1 SGB II), insbesondere Hilfebedürftigkeit vorliegen.
7. Gesundheitsförderung und Prävention:
- Gemäß § 3 Abs. 5 S. 7 HessHG fördern die Hochschulen die sportlichen und kulturellen Interessen ihrer Mitglieder und wirken an der sozialen Förderung der Studierenden in enger Kooperation mit den Studierendenwerken mit. Hieraus lässt sich mittelbar ein gesetzlicher Auftrag der Hochschulen ableiten, entsprechende Angebote zur Prävention und Gesundheitsförderung vorzuhalten.
- Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und zur Prävention an Hochschulen werden durch die Krankenkassen als Leistungen zur Gesundheitsförderung und Prävention in Lebenswelten (§ 20a SGB V) bzw. zur betrieblichen Gesundheitsförderung (§ 20b SGB V) gefördert.
8. Fazit
- Deutlich wird die breit gefächerte Rechtslage für Studieren mit Behinderung, die für die Betroffenen oft nur schwer zu überblicken ist.
- Studierenden sind auf eine kompetente Beratung angewiesen, um die vielfältigen Kenntnisse und Möglichkeiten zu erlangen.
- Gruppenbezogene Standards z.B. beim Nachteilsausgleich sollten weiterentwickelt werden.
Die vollständige Publikation von C. Janßen (2022) - "Studieren mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Behinderungen: rechtliche Rahmenbedingungen und ausgewählte Rechtsprobleme" finden Sie unter der Rubrik "Voträge und Publikationen".