22.08.2022 | Pressemitteilung

Wie der ÖPNV trotz Corona Fahrgäste zurückgewinnt

Die Pandemiejahre hatten schwerwiegende Auswirkungen auf den öffentlichen Personennahverkehr, dessen Fahrgastzahlen in Deutschland während des Lockdowns um bis zu 80 % zurückgingen. Zugleich sieht der ÖPNV einem weiteren Pandemie-Winter entgegen. Verkehrsforschende aus der Universität Kassel zeigen nun: Das Corona-Risiko im ÖPNV sehen viele Menschen höher als im Supermarkt – zu Unrecht, wie die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler finden.

Nahaufnahme Stopknopf in einem Bus, Hintergrund vorschwommen.Bild: Uni Kassel.

Im April 2021 befragten Forschende des Fachgebiets Verkehrsplanung und Verkehrssysteme über 900 Personen in Kassel zu ihrer Risikowahrnehmung in Bezug auf die Nutzung des ÖPNV. Zu diesem Zeitpunkt in der dritten Corona-Infektionswelle waren Bürgerinnen und Bürger angehalten, Kontakte deutlich zu reduzieren, die Lage in der Gesundheitsversorgung war angespannt, noch weniger als die Hälfte der Bevölkerung geimpft und die Bundesnotbremse wurde eingeführt. In der repräsentativen Umfrage identifizierten die Forschenden vier Personengruppen: Treue Nutzer, die genauso häufig oder häufiger als vor der Pandemie den ÖPNV nutzten; Reduzierer, die nun seltener oder viel seltener den ÖPNV nutzten; Pandemie-Aussteiger, die aktuell den ÖPNV nicht nutzten und angaben, erst seit der Pandemie seltener ÖPNV zu fahren und Nicht-Nutzer, die weder vor der Pandemie noch aktuell den ÖPNV nutzten.

Zentrales Ergebnis: Bis auf die treuen Nutzer nehmen alle befragten Personen im Vergleich zu anderen vergleichbaren Alltagssituationen wie Einkaufen im Supermarkt oder Friseurbesuche ein höheres Infektionsrisiko in öffentlichen Verkehrsmitteln wahr. „Damit ist die erhöhte Risikowahrnehmung kein Persönlichkeitsmerkmal, sondern die Befragten schätzen speziell die Situation in Bus und Bahn als gefährlich ein – und überschätzen damit das tatsächliche Infektionsrisiko“, erläutert Verkehrswissenschaftlerin Natalie Schneider. Verschiedene Studien kommen allerdings zu dem Ergebnis, dass im ÖPNV im Vergleich zu anderen Alltagssituationen kein erhöhtes Infektionsrisiko vorliegt. Das kann zum Beispiel an den effektiven Frischluftventilationssystemen und der kurzen Kontaktzeit liegen und an der Tatsache, dass das Tragen von Masken in öffentlichen Verkehrsmitteln in Deutschland zur neuen Norm geworden ist.

„Öffentliche Verkehrsmittel müssen wieder als sichere Orte wahrgenommen werden, um die Verkehrswende und die Klimaschutzziele zu erreichen“, fordert Prof. Dr. Carsten Sommer, Leiter des Fachgebiets Verkehrsplanung und Verkehrssysteme. „Unsere Ergebnisse zur Risikowahrnehmung können dabei Grundlage für Maßnahmen sein, die den öffentlichen Verkehr in Zukunft pandemieresistenter und für Fahrgäste attraktiver gestalten.“ So empfehlen die Forschenden für alle in der Befragung identifizierten Personengruppen eine zielgerichtete Kommunikation und eine Aufklärung über die objektiven Risiken sowie über Sicherheitsmaßnahmen. Darunter wurde die Einhaltung der Maskenpflicht zum Befragungszeitpunkt von allen Gruppen auch als wichtigste Schutzmaßnahme bewertet. Um das subjektiv wahrgenommene Risiko zu reduzieren, eigne sich beispielsweise das automatische Öffnen der Türen an den Haltestellen, obwohl diese technische Maßnahme aufgrund der guten Lüftungssysteme nur einen Effekt von bis zu zusätzlichen 10% Luftzirkulation hat. Dies wird insbesondere von treuen ÖPNV-Nutzerinnen und –Nutzern positiv wahrgenommen.

Um Pandemie-Aussteiger zurückzugewinnen, empfehlen die Forschenden aktive Kommunikation darüber, was der ÖPNV aus der Pandemie gelernt hat und was jetzt die Sicherheit in den Fahrzeugen verbessert. In der Wahrnehmung der Nicht-Nutzer ist laut Umfrage nicht das Gesundheitsrisiko der Pandemie der größte Kritikpunkt, sondern der mangelnde Komfort in den Fahrzeugen. Diese Personen könnten zum Beispiel durch das aktive Betonen von komfortabler und flexibler Fortbewegung in Innenstädten mit dem öffentlichen Nahverkehr im Gegensatz zu Autofahren und Parkplatzsuche von dem ÖPNV überzeugt werden.

 

Veröffentlichung (Open Access): https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpsyg.2022.926539/full

Mehr zum Forschungsprojekt EMILIA (Entwicklung eines pandemieresistenten ÖPNV): www.uni-kassel.de/go/emilia

 

Kontakt:

Dipl.-Ing. M. Sc. Natalie Schneider
Universität Kassel
Fachgebiet Verkehrsplanung und Verkehrssysteme
Telefon: +49 561 804-3279
E-Mail: N.Schneider[at]uni-kassel[dot]de

Pressekontakt:

Sebastian Mense
Universität Kassel
Kommunikation, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Tel. 0561 804-1961
E-Mail: presse[at]uni-kassel[dot]de