Romane aus Lateinamerika als Archiv sozialer Erfahrung
Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für drei Jahre mit 200.000 Euro geförderte Projekt beschäftigt sich mit der Darstellung autoritärer Herrschaftsformen im lateinamerikanischen Roman. Dabei stehen die „kleinen Herrscher des Alltags“ im Vordergrund, die in ihren zunächst überschaubaren Wirkungsfeldern den Einfluss staatlicher Macht und Kompetenzen zurückdrängen, wobei ihr hauptsächliches Aktionsfeld oft aus politischen und sozialen Krisen besteht. „Als Archiv sozialer Erfahrung stellt die Romanliteratur ein geeignetes Medium dar, solche Vorgänge in Figuren, Erzählungen und Perspektiven zu verdichten“, betont Prof. Dr. Jan-Henrik Witthaus. Er ist Professor für Spanische und Lateinamerikanische Literatur- und Kulturwissenschaft am Institut für Romanistik an der Universität Kassel.
Lateinamerika verzeichnet weltweit mit die höchsten Raten sozialer Ungleichheit. Politische Krisenszenarien wie soziale Notstände, Proteste oder Kriminalität gehören zur Tagesaktualität. „In Europa wird man diese Tendenzen mit Blick auf die eigene Zukunft aufmerksam beobachten“, ist sich Witthaus sicher. Denn Krisen bilden Rahmenbedingungen, in denen kleine Souveränität florieren kann und auch zum Thema der Literatur wird, zum Beispiel im Kontext von Erwerbsarbeit, aber auch in gesteigerter Form im Kontext von Kriminalität. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der spanischsprachigen Gegenwartsliteratur, wobei Gegenwart hier den Zeitraum von heute bis etwa in die 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts umfasst. Länderschwerpunkte der Untersuchung sind Mexico, Kolumbien, Argentinien, Chile und Uruguay.
„Ein bedeutender Teil der Projektarbeit wird Literaturrecherche sein, nicht zuletzt deshalb, weil große Teile der lateinamerikanischen Literatur hinsichtlich des genannten Themas noch wenig erschlossen sind: Es werden Erzähltexte identifiziert, gesammelt, gesichtet, ausgewertet und in sozialen sowie geschichtlichen Kontexten gedeutet“, führt Witthaus aus. Dabei widmet sich die Projektarbeit vorrangig Texten, die exemplarischen Themenfeldern entnommen werden. Zum einen sind das vorwiegend Romane über Arbeit und Bürokratie (Büroliteratur), zum anderen Texte über den Drogenhandel und -schmuggel (Narcoliteratur), wobei auch Schnittstellen zu Filmen und populären Serien untersucht werden. Interessierten seien zum Einstieg – so Witthaus weiter – die Romane Der Abgesang des Königs (dt. Übersetzung 2011) des mexikanischen Schriftstellers Yuri Herrera und Der Angestellte (dt. Übersetzung 2014) des argentinischen Autors Guillermo Saccomanno empfohlen.
In Bezug auf das Forschungsvorhaben betont Witthaus die enge Zusammenarbeit mit dem Centro de Estudios Latinoamericanos (CELA), das an der Universität Kassel verortet ist, und dem internationalen Forschungsverbund CALAS (Maria Sibylla Merian International Centre for Advanced Studies in the Humanities and Social Sciences gefördert durch das BMBF). Die zentrale Aufgabe des CELA ist, die Kasseler Lateinamerikaforschung national und international zu vernetzen, während die Universität Kassel federführend an der Koordination der von CALAS unterhaltenen Forschungszentren in Mexiko, Argentinien, Costa Rica und Ecuador beteiligt ist.
Für Frühjahr 2024 ist eine internationale wissenschaftliche Tagung in Kassel geplant, in deren Folge ein Tagungsband erscheinen soll und zum Ende des Förderzeitraums soll eine Monografie die Forschungsergebnisse zusammenfassen. Über den Fortgang der Arbeiten informiert zudem die Projekthomepage auf den Seiten der Universität Kassel:
https://www.uni-kassel.de/forschung/kleine-souveraenitaet/startseite
Kontakt:
Prof. Dr. Jan-Henrik Witthaus
Spanische und Lateinamerikanische Literatur- und Kulturwissenschaft
Institut für Romanistik / FB 02 Geistes- und Kulturwissenschaften
Tel.: 0561 804-3369
E-Mail: witthaus[at]uni-kassel[dot]de