Papageno statt Werther
Es sind Nuancen, aber sie sind vielsagend: In den vergangenen Jahren, so haben Reinhard Lindner und sein Team festgestellt, ist in einschlägigen Bundestagsdebatten häufiger die Rede von „Suizidwillen“ oder von „Suizidwunsch“. Seltener als früher spricht man von „Suizidgefahr“. „Dahinter steht eine Haltung, die den Suizid als Möglichkeit stärker akzeptiert als ihn zu problematisieren“, resümiert Lindner. „Das will die Suizidprävention ja gerade nicht.“
Es sind Arbeiten wie diese empirische Auswertung von Parlaments-Protokollen, mit denen Prof. Dr. Reinhard Lindner und sein Fachgebiet ein Thema bearbeiten, das häufig beschwiegen wird, in weiten Teilen wissenschaftlich noch wenig bearbeitet ist und dem, und das ist das Überraschende, Lindner auch etwas Aufbauendes, Stärkendes abgewinnen kann: Es geht um den Suizid und dessen Verhinderung.
Vor fünf Jahren übernahm Lindner eine Professur für Theorie, Empirie und Methoden der Sozialen Therapie und bringt sich seither in die Studiengänge Soziale Arbeit und Psychologie ein. Der Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie brachte die Leitung des Nationalen Suizidpräventionsprogramms (NaSPro) mit; der Name spricht für sich. Wissenschaftlich untersucht Lindner seitdem nicht nur Parlamentsdebatten, sondern erhebt beispielsweise im Auftrag der Bundesregierung, wie die Prävention in Deutschland aufgestellt ist, mit welchen Problemen sie kämpft und wo sie ausgebaut werden muss.
Lebensgeschichten zeigen
Lindners Hauptaugenmerk aber liegt auf der Frage: Wie gehen wir öffentlich mit diesem Thema um? Hilft es, es zu verschweigen? Dahinter steht die Furcht vor dem „Werther-Effekt“: Goethes Roman, an dessen Ende sich die Hauptfigur tötet, löste europaweit Nachahmungen aus. Das will man natürlich vermeiden. Darum sind beispielsweise Medien angehalten, nur in Ausnahmefällen über Suizide zu berichten.
Dem gegenüber steht der „Papageno“- Effekt, benannt nach dem Vogelfänger aus der Zauberflöte, der über seine Suizidabsichten spricht und deswegen gerettet wird. „Reden hilft“, bekräftigt Lindner und stützt sich dabei auf seine Forschung. Und wie soll man reden? „Im Privaten, indem man Betroffenen zuhört, Anteil nimmt und bei der Suche nach Hilfe unterstützt. Und im öffentlichen Diskurs, indem man immer wieder deutlich macht: Es gibt Hilfe! Auch, indem man Lebensgeschichten zeigt von Menschen, die sich diese Hilfe geholt und ihre Krise überwunden haben.“
Wie das im Social-Media-Zeitalter aussehen kann, beschreibt seine Mitarbeiterin Hannah Müller-Pein. Für ihre Dissertation untersucht sie, wie Betroffene auf YouTube berichten, wie sie eine tiefe Krise überwunden haben. „Es gibt diese Erzählungen auf YouTube, und sie wirken“, ist sich Müller-Pein sicher. Nicht immer verbreiten Soziale Medien negativen Content.
In diesem Geist organisieren Lindner und Müller-Pein zusammen mit Studierenden der Sozialen Arbeit in der Woche vom 7. bis zum 14. Oktober eine „Woche der Suizidprävention“ in Kassel, flankierend zur Tagung der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention an der Universität. Dabei zeigen Kulturinstitutionen vom Staatstheater bis zur Caricatura, wie öffentlich über Suizidalität gesprochen werden kann, um Verständnis, Unterstützung und Verbindung mit dem Leben zu befördern. Hinterher wird diskutiert – und auch diese Diskussionen werten Lindner und sein Team wiederum wissenschaftlich aus. Er verspricht, dass diese Abende anregend werden: „Besucherinnen und Besucher sollen sensibilisiert und mit Hoffnung nach Hause gehen.“
Dieser Beitrag erschien im Universitäts-Magazin publik 2023/3. Text: Sebastian Mense.