Wie man einer Märchenerzählerin auf die Spur kommt
„Die weiße und die schwarze Braut“ ist eines der unbekannteren Märchen der Brüder Grimm; es verarbeitet das Motiv der untergeschobenen Braut und zählt zu den Zaubermärchen: Schwarze Magie führt zu Unrecht, weiße Magie stellt das Recht wieder her. Bislang ging die Forschung von westfälischen und mecklenburgischen Quellen aus, unter anderem vermutete man die Beiträger in der Adelsfamilie von Haxthausen, die den Grimms im „Bökendorfer Kreis“ verbunden war. Dies jedoch hat Grimm-Forscher Dr. Holger Ehrhardt nun widerlegt. Ehrhardt, Professor für Werk und Wirkung der Brüder Grimm an der Universität Kassel, stieß bei der Auswertung von Unterlagen aus dem Grimm-Nachlass in Berlin auf mehrere Dutzend Urfassungen von Märchen: Briefe, in denen sogenannte „Beiträger“ den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm Märchen, Sagen oder andere Volksüberlieferungen zusandten, aber auch Protokolle von Gesprächen der Grimms mit Menschen aus der Bevölkerung, in denen sie sich die mündlich überlieferten Geschichten erzählen ließen und für eine spätere Veröffentlichung erfassten.
Eine besondere Überraschung hält eine Fassung des Märchens „Die weiße und die schwarze Braut“ in der Handschrift von Jacob Grimm bereit, hier unter dem Titel „Die Ente am Goßenstein“. Ehrhardt fand in dieser Urfassung zahlreiche Belege, dass der Stoff von Dorothea Viehmann stammen muss, der wohl berühmtesten Märchenerzählerin, und nicht von den Haxthausens. Wie sieht solch eine Detektivarbeit aus? Eine Auswahl der Hinweise, auf die Ehrhardt gestoßen ist:
Motiv-Vergleiche: Unwissentlich spricht die Stiefmutter am Ende der Erzählung ihr eigenes Urteil. Die Urfassung endet: „Aber der König […] fragte: was verdient die, welche das und das thut? indem er ihr den ganzen Hergang erzählte. Da war sie verblendet, merkte nichts und sprach: die verdienen, daß man sie nackigt auszieht und in ein Faß Nägel legt und vor das Faß ein Pferd spannt und das Pferd in alle Welt schickt. Alles das geschah nun, […].“ Sowohl die Selbstverurteilung als auch die Strafe des Nagelfasses finden sich in drei weiteren Viehmann-Märchen, unter anderem in der „Gänsemagd“. Auch das Motiv einer nackten Frau ist nur in Viehmann-Märchen zu finden, in anderen Märchen kommen allenfalls nackte Männer vor. Ehrhardt: „Sie hatte ein anderes Verhältnis zur Körperlichkeit als die jungen bürgerlichen Damen aus dem Bekanntenkreis der Brüder Grimm.“
Sprachlich-stilistische Belege: Die Wendung „Was verdient die, welche das und das thut?“ ist charakteristisch. „Solche eigenwilligen Doppelungen sind nur in Viehmann-Märchen sowie im vorliegenden Manuskript nachweisbar“, erklärt Ehrhardt.
Überlieferungsgeschichtliche Gemeinsamkeiten: Obwohl sie Nachfahrin hugenottischer Einwanderer war, weisen die Viehmannschen Geschichten inhaltlich häufig eine Nähe zu italienischen Stoffen auf – auch „Die Ente am Goßenstein“ hat Bezüge zum Pentamerone, einer italienischen Sammlung.
Biographische Betrachtung: Zwar steht das Märchen im Buch zwischen 13 Geschichten aus Westfalen und trägt die Herkunftsangabe „Aus dem Meklenb. und Paderbörn.“ Doch vieles spricht für ein Versehen. Während die Handschrift von Jacob Grimm stammt, oblag die Schlussredaktion des zweiten Bandes der Kinder- und Hausmärchen alleine Wilhelm – Jacob war auf Reisen. Es wäre auch die einzige Urschrift eines Märchens aus Westfalen von Jacobs Hand.
Schriftvergleichende Beurteilung: Wie bei den meisten Menschen änderte sich die Handschrift Jacob Grimms im Laufe seines Lebens. Die Schriftgestalt lässt auf eine Entstehung um 1813 schließen. In jenem Jahr trafen sich die Grimms mit Dorothea Viehmann.
Ehrhardt betont die Bedeutung des Fundes für die Grimm-Forschung: „Da wir nun wissen, dass Die weiße und die schwarze Braut von ihr stammt, haben wir zum ersten Mal eine Mitschrift bzw. eine Urfassung zu einem veröffentlichten Viehmann-Märchen.“ Dadurch werde es möglich, die Editionsgeschichte der Viehmann-Märchen und den Umgang der Brüder Grimm mit ihren Stoffen besser nachzuvollziehen.
Dieser Beitrag erschien im Universitäts-Magazin publik 2023/4. Text: Sebastian Mense