Von Käfern, Controllern und Kobolden
Ein Borkenkäfermännchen, das sein Weibchen sucht. Ein Eichensetzling, der um sein sonniges Plätzchen kämpft. Ein Ahornsamen, der auf seinem Höhenflug Unterstützung braucht. Drei Szenarien, mit denen sich die meisten vermutlich selten auseinandergesetzt haben – bis jetzt. Denn nun kann man alle drei Situationen in Form von „Mini-Games“ im Naturkundemuseum selbst durchspielen. Eingebettet in die aktuelle Sonderausstellung „WALD“ bieten sie täglich mehreren hundert Spielenden neue Einblicke in das Ökosystem Wald. Diese Mini-Games sind das Ergebnis des Workshops „Ecoquest“, der im September 2023 als Zusammenarbeit zwischen der Uni Kassel, dem documenta Institut und dem Naturkundemuseum Kassel stattfand. Die Projektleitung lag bei Yulia Gromova, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Kunst und Ökonomien und Mitglied des documenta Instituts. Ziel des einwöchigen Workshops: ein Spiel entwickeln, das Wissen über den Wald vermittelt und das Bewusstsein für Umweltprobleme und mögliche Lösungen fördert. Ein Teilnehmer war Sven Mehlhorn, ausgebildeter Grafiker und Student an der Kunsthochschule Kassel. Er ist verantwortlich für das visuelle und grafische Design der Mini-Games: „Die Hintergründe der Spiele sind wegen der knappen Zeit KI-generiert, die Vordergründe habe ich selbst gezeichnet und animiert.“
Warum Spiele?
Geleitet hat den Workshop unter anderem Dr. Tamara Bodden. Sie war bis vor Kurzem wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik und hat einen ihrer Forschungsschwerpunkte auf den Games Studies. Sie weiß: Games sind ein sehr beliebtes Medium, etwa jede dritte Person in Deutschland nutzt sie. Hier schlummert also ein großes Potenzial. „Die Prozesse eines komplexen Ökosystems zu verstehen ist wichtig, um sich für die Thematik zu sensibilisieren“, erläutert Bodden. Das gilt auch für das Thema Wald und wie man ihn schützen kann. Daher steht neben dem Spaß bei den Mini-Games auch die Wissensvermittlung im Vordergrund: Spielende lernen anhand kurzer Erklär-Texte, die vor und nach den Games eingeblendet werden, dass der Borkenkäfer mitverantwortlich ist für den Zustand des Waldes; sie erfahren die Vor- und Nachteile davon, Bäume nah beieinander zu pflanzen, und bekommen Einblicke in die Fortpflanzungsstrategien von Bäumen. „Durch die eigene Auseinandersetzung mit diesen Themen in Spielform hält man den Wald möglicherweise für schützenswerter“, so die Games-Expertin.
Nachdem im vergangenen Workshop ein digitales Spiel entworfen wurde, soll jetzt ein analoges Konzept folgen: Im Rahmen eines transdisziplinären Projekts des neuen Nachhaltigkeitslabors der Uni Kassel, des SDG+ Labs, entwickeln die Beteiligten – Studierende aus verschiedenen Fachbereichen und der Kunsthochschule, wieder unter der Leitung von Yulia Gromova – ein Spiel zum Thema Entwaldung und Forstwirtschaft. Da die Zielgruppe diesmal Erwachsene sind und ein niedrigschwelliges, für alle zugängliches Format gewünscht war, ist die Entscheidung auf ein Brettspiel gefallen. Ziel ist, ein sogenanntes „serious game“ zu entwickeln; diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich einer realen Problematik – in diesem Fall die Abholzung regionaler Wälder – bedienen und somit eine gewisse Lebensrealität abbilden. Das Spiel nimmt Kassel und Umgebung in den Fokus und soll lokale Akteure, Geschichten und Herausforderungen widerspiegeln.
Rotkäppchen im Reinhardswald
Geeinigt haben sich die Teilnehmenden daher bereits darauf, dass das finale Spielbrett handgezeichnet und in einer von den Brüdern Grimm inspirierten Ästhetik gestaltet sein soll, um Nachhaltigkeitsthemen mit magischen Elementen zu verbinden. So könnte das Spielfeld beispielsweise den Reinhardswald darstellen und die Figur, die man spielt, ein Kobold oder eine Märchengestalt sein, die sich in diesem bewegt. „Das Spiel hat natürlich einen wirtschaftlichen Aspekt, aber wir möchten damit die Idee traditioneller Ressourcenmanagement-Spiele wie Monopoly in Frage stellen“, betont die Projektleiterin. „Es soll nicht nur um Wachstum oder Gewinne gehen, sondern darum, ein Gleichgewicht zwischen Umweltbewusstsein und einer ökonomischen Strategie zu finden.“ Yulia Gromova beschäftigt sich auch im Rahmen ihrer Promotion damit, welche Nachhaltigkeitsnarrative den öffentlichen Diskurs prägen, und erforscht unter anderem, wie man die Relevanz von Wäldern als CO2-Speicher vermitteln kann. „Spiele sind ein interessantes Werkzeug, um sich eine eigene Welt aufzubauen und darin neue Wege und Ideen zu erkunden“, findet sie. So könne man bestimmte reale Parameter einbringen und dann innerhalb des Spiels zum Beispiel kontroverse Technologien, ihre Umsetzung und ihre Folgen mit anderen diskutieren. „Spiele ermöglichen es uns, auch über die Zukunft von Ökosystemen und unser Verhältnis zu ihnen nachzudenken und zu sprechen.“
Dieser Beitrag erschien im Universitäts-Magazin publik 2024/1. Text: Lisa-Maxine Klein