08.03.2024 | Porträts und Geschichten

Dokument der Demokratie

175 Jahre alt: Die Uni verwahrt eine von zwei erhaltenen Verfassungsurkunden des Paulskirchenparlaments

Bild: Andreas Fischer
Dr. Brigitte Pfeil mit dem Original der Verfassung.

Große Hoffnungen liegen auf dem Dokument, das die Nationalversammlung im März 1849 verabschiedet: Diese Verfassung soll die Kleinstaaterei überwinden, die Demokratie bringen und die Grundrechte garantieren. Lange haben die Parlamentarier in der Frankfurter Paulskirche um den Text gerungen, bis sie schließlich feierlich zur Unterschrift schreiten. Hätten sich die Demokraten damit in der Folge gegen die Fürsten durchgesetzt, die Geschichte wäre anders verlaufen. Haben sie bekanntlich nicht; doch ein Original der Verfassung im Schatz der Landes- und Murhardschen Bibliothek der Universität Kassel bezeugt den geschichtlichen Moment, als dies möglich schien. Dass dieses Original in Kassel lagert, nennt Brigitte Pfeil, Leiterin der Sondersammlungen, einen „historischen Zufall“. Die Nationalversammlung, gewählt nach den Erhebungen im Jahr zuvor, einigt sich im Frühjahr 1849 nach zehn Monaten zäher Verhandlungen auf die 197 Verfassungsartikel. Parlamentspräsident Eduard Simson lässt nicht nur eines, sondern gleich drei Exemplare der Verfassung anfertigen und auf den 28. März datieren: Das wertvollste, aus Pergament, liegt zur Unterschrift aus und wird von 405 Mitgliedern der Nationalversammlung, einer großen Mehrheit, abgezeichnet. Zwei weitere Exemplare werden auf
Papier gedruckt.

Als Plenarsaal diente die Paulskirche in der Freien Stadt Frankfurt.

Eine der Papier-Ausfertigungen nimmt die Delegation mit, die dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. in Berlin die Kaiserkrone anträgt. Der Monarch lehnt ab, die Bewegung bricht zusammen, das Exemplar taucht nie wieder auf. Das Pergament-Stück mit den 405 Unterschriften bringt nach dem Scheitern der Nationalversammlung der Verwalter des parlamentarischen Nachlasses, Friedrich Jucho, in England in Sicherheit. Es folgt eine Odyssee, die in die Berliner Reichstagsbibliothek führt; später wird das Dokument gestohlen, nach einer internationalen Fahndung sichergestellt, während des Zweiten Weltkriegs in einem Bergwerk eingelagert, von den Amerikanern geborgen, von den Sowjets beschlagnahmt. Die Spur verliert sich, bis ein 17-Jähriger das arg lädierte Stück 1951 auf einem Potsdamer Schuttberg findet. Heute gehört es zum Bestand des Deutschen Historischen Museums. Das dritte Original schließlich nimmt, als sich das Scheitern der Revolution abzeichnet, Dr. Karl Christian Sigismund Bernhardi an sich, Abgeordneter des Wahlkreises Eschwege in Kurhessen. In der Residenzstadt Kassel ist er als Bibliothekar an der Landesbibliothek tätig und war schon vor der 48er-Revolution politisch aktiv. So gehörte er zu jenen, die dem konservativen Kasseler Fürstenhaus 1831 eine Verfassung für Kurhessen abtrotzten. Später wird er Parlamentarier in Preußen. Für seine Verdienste um die Förderung armer Kinder ernennt ihn die Stadt Kassel zum Ehrenbürger. Nach Bernhardi ist seit 2005 die kleine Straße zwischen Fridericianum und Dock 4 benannt.

Dieses dritte Original ist nur von 212 Abgeordneten und wohl nachträglich unterzeichnet, darunter – unter der Nummer 205 – von Bernhardi selbst. Warum, ist unklar. Auch ob dieses Exemplar als eine Art Sicherungskopie der beiden anderen Versionen dienen sollte, ist nicht bekannt. Belegt ist, dass Bernhardi es am 4. Juni 1849 in den Bestand der Landesbibliothek aufnimmt, die heute zur Universitäts-Bibliothek gehört; das Datum vermerkt er eigenhändig auf einem Vorblatt. Die knapp fünfzig Seiten im Folio-Format sind in rotes Leder gebunden, auf der Vorderseite prangt schwarz auf Gold der doppelköpfige Reichsadler – die Farben der Revolution. Wenig beachtet übersteht das Kasseler Exemplar die Restauration, die Wirren von Republik und Diktatur und die Luftangriffe des Zweiten Weltkriegs. Im Herbst 1989 erfährt dieses einzige unversehrte Original der Paulskirchenverfassung noch einmal öffentliche Beachtung, als es im Tresorraum der Bibliothek gemeinsam mit dem pergamentenen Berliner Exemplar zu sehen ist. Die Ausstellung endet am Tag vor dem Mauerfall. Seitdem ist es still geworden um das Kasseler Original. Wegen der laufenden Bauarbeiten ist das Dokument derzeit in ein externes Depot ausgelagert. „Wie wichtig uns die Verfassung ist, erkennt man auch daran, dass wir sie in dasselbe Depot gegeben haben wie die wertvollsten Handschriften unserer Sammlung“, betont Brigitte Pfeil. Wäre es nicht schön, die Verfassung zum 175. Jubiläum zu präsentieren und dadurch an die seinerzeitige Begeisterung für Demokratie und Bürgerrechte und an das gemeinsame Ringen um Kompromisse zu erinnern? Es fehlen die Räume, bedauert die Sammlungsleiterin. Die Bauarbeiten an der Murhardschen Bibliothek werden sich noch einige Zeit hinziehen. Erst wenn der neue Lesesaal eingeweiht und auch alle anderen Trakte des Gebäudes saniert sein werden, erst dann könne man das Stück würdig und sicher präsentieren.

 

Dieser Beitrag erschien im Universitäts-Magazin publik 2024/1. Text: Sebastian Mense