02.06.2021 | Porträts und Geschichten

Wie lange dauert die Gegenwart? Forschung zu biologischen Uhren

Ist biologische Zeit kontinuierlich? Und die Gegenwart messbar? Die Biologin Monika Stengl erforscht die innere Uhr des Lebens. Mit philosophischem Mehrwert.

Bild: Uni Kassel.
Prof. Dr. Monika Stengl.

Satt klickt ein Dutzend Metronome. In diesem beliebten physikalischen Experiment sind die Geräte verbunden durch einen sanft schwingenden Boden, ihr Tick-Tock hat nicht dieselbe Frequenz, außerdem sind sie in unterschiedlichen Momenten gestartet – ein akustisches Durcheinander. Doch schon nach kurzer Zeit synchronisieren sich die Metronome, ebenso verblüffend wie angenehm für Auge und Ohr. „Ein Fall von Selbstorganisation“, erklärt die Kasseler Biologie-Professorin Dr. Monika Stengl. „Es geschieht ohne äußeren Eingriff, ohne bewusste, willentliche Steuerung. Es geschieht von selbst.“ Diesem Prinzip der selbstständigen Synchronisation von Oszillationen begegnet sie immer wieder, in der Klangwelt, in der Natur und vor allem in ihrer Arbeit.

Stengl erforscht seit Jahren biologische Uhren beziehungsweise Oszillatoren von Organismen. Jedes Lebewesen hat eine Vielzahl davon – sie generieren kurzfristige Zyklen, mittelfristige und langfristige Kreisläufe – diese Oszillationen strukturieren das Leben, von der Zellteilung der Pflanzen über die allabendliche Müdigkeit der Menschen bis zur Winterruhe der Bären. Entschlüsselt sind sie nicht. So viel allerdings steht für die Kasseler Biologin fest: Die Selbstorganisation, das Einschwingen auf eine gemeinsame, harmonische Frequenz im Einklang mit den Rhythmen der Umwelt spielt dabei eine entscheidende Rolle.

Die gebürtige Oberbayerin Stengl ist seit 2007 Professorin an der Universität Kassel. Wie Organismen Reize verarbeiten, weiterleiten und sich und ihr Verhalten dadurch selbst steuern, das lässt sie seit ihren Anfängen als Wissenschaftlerin nicht los. Vor mehr als 20 Jahren entwickelte sie als weltweit Erste eine Methode, Geruchszellen eines Insekts, eines Nachtfalters, in vitro zu züchten und mit Pheromonen (Düften mit Hormonwirkung) zu aktivieren: Die Zellen des männlichen Schwärmers können, während sie in der Petrischale liegen, die Weibchen "riechen". Ihre Arbeitsgruppe ist bis heute die international beste, die Insektenneuronen kultivieren kann, und sie setzt diese Methode auch in der aktuellen Forschung zu biologischen Uhren ein.

Bekannt ist, dass sogenannte circadiane Uhren in unserem Körper verschiedene tägliche Rhythmen im biologischen Tageskreislauf steuern: Die Augen nehmen den 24-Stunden-Zyklus von Tag und Nacht wahr und melden ihn der circadianen Hauptuhr im Gehirn. Diese orchestriert dann die anderen Uhren im Körper und synchronisiert unsere Körperzeit mit der Zeit unserer Umwelt. In unseren zellulären Uhren werden rhythmisch Uhr-Gene abgelesen und Uhr-Proteine erzeugt, die innerhalb eines Tages wieder zerfallen. Spezialisierte Körperuhren stellen zur Synchronisation anderer Körperuhren Neuropeptide und Hormone her, beispielsweise das Hormon Melatonin, das uns müde macht. In der Nacht steigt der Melatonin-Spiegel und wir schlafen ein. Müdigkeit, Hunger, Leistungsfähigkeit, Schmerzempfindlichkeit, Zellreparaturen – alles läuft synchronisiert zu definierten Tageszeiten im täglichen 24-Stunden-Zyklus ab.

Doch daneben gibt es weitere Uhren. Die Bewegung der Himmelskörper hat sich im Laufe der Evolution tief in die Natur eingeschrieben und Monats- und Jahreszyklen geprägt – jedes Herbstblatt zeugt davon. „Ein Organismus, der überleben will, hat ungeheure Vorteile, wenn er sich auf die rhythmischen Änderungen der Natur, auf Änderungen in Temperatur, Licht, Ebbe und Flut und so weiter einstellen kann, sie vorhersieht“, erläutert Stengl. Anders ausgedrückt: „Unsere Umwelt ist ein Zeitgeber, ein Oszillator auf vielen Zeitskalen. Auch ein Organismus ist ein vielschichtiger Oszillator mit schnellen und langsamen Zeitskalen, und er synchronisiert seine vielfältigen Kreisläufe mit der Umgebung." Wie die Metronome. Doch wie koordiniert ein Organismus die 24-Stunden-Kreisläufe mit den kurzfristigen Zyklen und den langfristigen Schleifen? Um das zu ergründen, untersucht Stengl nicht nur Riechzellen, sondern lauscht auch der Madeira-Schabe die Gehirnimpulse ab.

Geheimnisse der Schabe

Das Labor von Stengls Fachgebiet „Tierphysiologie“ in Oberzwehren: Helles Licht und zahlreiche Messgeräte. Hier arbeiten nicht nur die Riechzellen des Tabakschwärmers in ihren Petrischalen, hier bekommen auch die daumengroßen Madeira-Schaben einen Aufsatz auf den Kopf gesetzt, der Impulse ihres Gehirns messen kann. Die Kasseler Forschungsgruppe arbeitet seit Jahren mit Insekten und hat im Schaben-Gehirn eine Gruppe von Neuropeptid-haltigen Neuronen identifiziert, die eine zentrale innere Uhr bilden. Die grundsätzliche Logik ihres Uhrwerkes ist auf unsere Menschen-Uhr übertragbar: So setzt die Gehirnuhr zahlreiche Neuropeptide als Kopplungsfaktoren zu bestimmten Tageszeiten frei und orchestriert so zahlreiche zyklische Vorgänge im Körper. Fehlen bestimmte Neuropeptide, dann kann der Organismus, ob Mensch oder Schabe, weder ein Zeitgefühl aufbauen, noch regelmäßig schlafen und essen. Zahlreiche Krankheiten und psychische Störungen basieren auf einer Störung oder Desynchronisation unserer Körperuhren.

Was die Kasseler Biologin derzeit besonders interessiert: Wie genau synchronisieren diese Uhr-Neuropeptide andere neuronale Uhren, wie werden diese chemischen Signale in der Zelle übersetzt in elektrische Impulse für das Gehirn, das schließlich auf dieser elektrischen Basis arbeitet? Klar ist: Die Zellmembran schreibt chemische Informationen in elektrische Impulse um. Doch steckt vielleicht ein zusätzlicher Code in dieser Übersetzung? „Es spricht einiges dafür, dass die Membran selbst auch ein Oszillator ist, dass sie in bestimmten schnellen und langsamen Takten schwingt und so gleichzeitig das Verbindungsglied zwischen der circadianen Uhr und verschiedenen schnellen Uhren im Körper darstellt“, vermutet Stengl. Gemeinsam mit zahlreichen Kasseler Kolleginnen und Kollegen aus anderen Disziplinen hat sie einen Antrag für ein DFG-Graduiertenkolleg eingereicht, das diese und andere Fragen klären soll. Dabei können die Forscherinnen und Forscher auf Ergebnisse eines Projekts aufbauen, das die Universität vor fünf Jahren aus eigenen Mitteln angeschoben hatte, um vielversprechende Forschungscluster zu fördern.
Die Ergebnisse sollen verstehen helfen, wie sich nicht nur Lebewesen, sondern ganze ökologische Systeme synchronisieren, und letztlich auch etwas über uns als Menschen und soziale Wesen aussagen: Wie können wir in Einklang kommen mit unserer Biologie, mit unserer Umwelt? (Stengl: „Handy im Bett, Essen zur Unzeit – wir tun eigentlich alles, um unsere innere Uhr durcheinander zu bringen“) Welche Bedeutung haben Musik, Rhythmen, Rituale für die Synchronisation von Gruppen?
Selbst philosophische Fragen werden berührt. Letztlich lässt sich sogar unsere individuelle Körperzeit messen und ihre Ankopplung an das Zeitgefüge unserer Umwelt, ist die Biologin überzeugt – nicht mit dem Sekundenzeiger unserer mechanischen Uhren, sondern mit den elektrischen Oszillationen unseres Gehirns, mit den chemischen Rhythmen in den Zellen unseres Körpers. „Biologische Zeit kann sich individuell dehnen oder kontrahieren“, sagt Stengl. Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft entstehen in unserem Gehirn: „Die Vergangenheit beispielsweise, das sind die physikalisch abgespeicherten Erfahrungen, Informationen in unseren Köpfen.“ Und die Gegenwart? Der flüchtige Augenblick, den Sinne und Gehirn brauchen, um momentane Reize zu bemerken und zu verarbeiten. Bis sie eben gespeichert sind.

Dieser Text erscheint in der Ausgabe 2021/2 des Uni-Magazins publik (Juni 2021). Autor: Sebastian Mense